Wirkungen und unerwünschte Nebenwirkungen unkonventioneller Instrumente

Europas Finanzpolitik in der Krise

 

Gastkommentar für Die Presse, 09.04.2021

Europas Geld- und Finanzpolitik befindet sich seit der Finanzkrise 2008 im permanenten Krisenmodus. Der Einsatz „unkonventioneller“ Instrumente ist zur Routine geworden und wurde in der Corona-Krise massiv verstärkt. Gemessen am Hauptziel, die Volkswirtschaften der Eurozone vor den Folgen unerwarteter systemischer Schocks zu bewahren, erweist sich diese im übertragenen Sinn „intensivmedizinische“ Behandlung – trotz unerwünschter Nebenwirkungen – als durchaus erfolgreich. Sie lässt sich allerdings spätestens seit der Einigung auf den Corona-Wiederaufbaufonds nicht dauerhaft fortsetzen, ohne den bisherigen Konsens über die Spielregeln der Gemeinschaftswährung zu gefährden.

Hatte Europa auf die nach der Finanzkrise 2008 und der von ihr ausgelösten Staatsschuldenkrise drohende Gefahr eines Zerfalls des Euro noch mit großer Verspätung reagiert, leistete man sich nach Ausbruch der Corona-Krise keine Verzögerungen mehr. Als sich nach Beginn der Pandemie ein erster Anstieg der Anleiherenditen von höher verschuldeten Euro-Staaten abzeichnete, setzte die EZB unverzüglich ein umfassendes Anleihe-Ankaufsprogramm („PEPP“) in Gang, das nicht nur die Situation auf den Finanzmärkten stabilisierte, sondern auch bestmögliche Voraussetzungen für die Finanzierung der einzelstaatlichen Krisenbekämpfungs-Programme schuf. Ergänzend dazu brachte die Europäische Kommission Sofortmaßnahmen mit einem Gesamtrahmen von 540 Milliarden Euro auf den Weg – von Sondermitteln für den permanenten Schutzschirm ESM über einen Garantierahmen für die Europäische Investitionsbank bis zu einem Programm („SURE“) zur Unterstützung von Kurzarbeit.

Bald darauf begann das politische Ringen um den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“). Die dafür erforderlichen Mittel werden erstmals zur Gänze durch Gemeinschaftsanleihen aufgebracht. Von einigen ihrer Befürworter wird diese dem Vertrag von Maastricht in wesentlichen Bereichen widersprechende Finanzierungsform als einmalige, der Krise geschuldete Abweichung von der bisherigen Praxis eingestuft. Andere sehen darin einen ersten Durchbruch auf dem Weg zu einer künftigen Fiskalunion.

Österreich stemmte sich gemeinsam mit vier weiteren, kleineren Nettozahler-Ländern gegen einen zu hohen Anteil von nicht rückzahlbaren Zuschüssen, deren Anteil schließlich von ursprünglich geplanten EUR 500 Mrd. auf immer noch beachtliche EUR 390 Mrd. verringert wurde. Ein Blick auf das die nachfolgende Ausgestaltung des Programms zeigt, dass die Skepsis der „Sparsamen Vier“ durchaus berechtigt war. Denn die Zuteilung der vorgesehenen Hilfsmittel richtet sich weniger nach der direkten Corona-Schadensbilanz betroffener Staaten, als nach herkömmlichen Aufteilungsschlüsseln gemäß deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Überzeugende transeuropäische Vorhaben im Bereich der Digitalisierung, der Verkehrsinfrastruktur oder von nachhaltigen Energieprojekten fehlen hingegen schmerzhaft.

Schon bis Ende April dieses Jahres müssen von den Mitgliedsstaaten Projekte eingereicht werden, die den vage gefassten Leitzielen entsprechen. Sehr viele davon wären ohnehin aus nationalen Budgets finanziert worden – unter Zeitdruck erhalten sie nun eine Europa-Plakette. Die Mittel aus dem Hilfsfonds müssen bis 2023 zur Gänze ausgegeben sein. Offen bleibt, wie unter diesen Umständen eine ausreichende Mittel-Verwendungskontrolle umsetzbar sein soll. Die österreichischen Einreichpläne für Projekte, mit denen diese Zuschüsse abgerufen werden können, befinden sind noch im Stadium der Vorbereitung.

Auf die zentrale Frage, aus welchen neu zu schaffenden gesamteuropäischen Steuerquellen die spätere Rückzahlung der Gemeinschaftsschulden erfolgen soll, will man Antworten erst bis 2024 finden. Bliebe diese Suche ergebnislos, wären die Mitgliedsstaaten dennoch verpflichtet, für die Bedienung der Gemeinschaftsschulden aufzukommen. Dies müsste vor allem in den vom Hilfspaket nur schwach bedachten Nettozahler-Staaten zu beachtlichem politischem Erklärungsbedarf führen. Die voraussichtliche Nettobelastung für Österreich aus dem Wiederaufbaufonds wird immerhin bei rund 5,9 Milliarden Euro liegen – eine Saldogröße aus Rückzahlungsverpflichtungen von 9,6 und zu erwartenden Zuschüssen von 3,7 Milliarden Euro.

Voraussetzung für die Umsetzung des Wiederaufbaufonds ist dessen Ratifizierung durch die Parlamente aller 27 Mitgliedsstaaten. In 16 davon ist das bereits erledigt – der österreichische Beschluss steht noch bevor. Die Diskussion dazu könnte schwieriger werden als ursprünglich geplant, da der Ratifizierungsprozess bei unseren deutschen Nachbarn zuletzt durch eine Verfassungsbeschwerde überraschend ins Stocken gekommen ist. 

Es rächt sich nun, dass das Corona-Paket mit heißer Nadel gestrickt wurde und sich nach der Grundsatzeinigung niemand mehr Zeit für lästige Details nehmen wollte. Dabei wäre gerade aus Sorge um Europa Sorgfalt angebracht gewesen. Nun, da es kein Zurück mehr gibt, ist zu hoffen, dass die deutsche Verfassungshürde dennoch genommen wird und Brüssel in der Folge seine Anstrengungen für eine seriöse Umsetzung von „Next Generation EU“ deutlich erhöht.

Europas Finanz- und Fiskalverfassung bedarf jedenfalls in ihrer Gesamtheit einer gründlichen Überarbeitung. Einerseits ist die Orientierung an vor drei Jahrzehnten in Maastricht unter ganz anderen gesamtwirtschaftlichen Umständen fixierten Defizit- und Schuldengrößen nach dem Corona-Schuldenschock nicht mehr haltbar. Andererseits muss eine neue Balance zu der durch Niedrigzinsen und Anleihekäufe um den dauerhaften Zusammenhalt der Gemeinschaftswährung bemühten Europäischen Zentralbank gefunden werden.

Im Rahmen einer neuen Aufgabenteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene wären dann auch zentrale Budgets für gesamteuropäische Projekte denkbar. Dieser Schritt in Richtung Fiskalunion müsste jedoch mit der Einführung gesamteuropäischer Steuerquellen einhergehen. Antworten auf die Frage, wie sich die unabdingbare budgetpolitische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten mit verstärkten, gemeinschaftlich finanzierten Vorhaben verbinden lässt, sind nicht einfach zu finden. Die engagierte Such danach ist aber jedenfalls zielführender, als irreversible Weichenstellungen in Richtung einer Fiskalunion einfach „passieren“ zu lassen.

Die Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen von aus der Not geborenen Kriseninstrumenten der EZB, der Union und ihrer Mitgliedsstaaten gehören auf den Prüfstand und müssen ehrlicher als bisher offengelegt werden. Nur so lässt sich die einsetzende Erosion des Vertrauens in die europäische Finanzverfassung wieder herstellen.

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