Vom orchideenfach zur grundsatzdisziplin

Wirtschaftsethik in der Finanzwirtschaft

 

ETHIK-IMPULS an der Universität Luzern am 30.Oktober 2019

Die Wirtschaftsethik als Türöffner zu neuen Sichtweisen in der Ökonomie

Der Diskurs über Wirtschaftsethik hat in den letzten Jahren so stark an Bedeutung gewonnen, dass er zum Einfallstor neuer Denkansätze in der allzu erstarrten Modell-Welt der Ökonomie werden konnte. Ja mehr noch: die Wirtschaftsethik hat es innerhalb weniger Jahre vom dekorativen „Nice-to-have“-Orchideenfach am Rande der Wirtschaftswissenschaft in den Rang einer neuen Grundlagen-Disziplin geschafft.

Dabei geht es längst nicht mehr nur um individualethische Fragestellungen, sondern auch um die grundlegende ethische Vor-Frage der überfälligen Erneuerung unserer Wirtschaftsordnung als Ganzer: Wie kann es gelingen, in einer arbeitsteiligen Ökonomie Wert-Schöpfung im zweifachen Sinn zu schaffen, so nämlich, dass durch einzelwirtschaftliche Aktivitäten eine ausreichende materielle Basis erwirtschaftet wird, auf deren Grundlage zugleich gesellschaftlicher Zusammenhalt und Lebensqualität für möglichst Viele gewährleistet werden kann. Und dies – das sei in Zeiten der Klimapolitik hinzugefügt – auf eine Weise, die im Unterschied zur derzeitigen Praxis auf Nachhaltigkeit hin angelegt ist.

Nach mehreren Dekaden der Lostrennung der Wirtschaftswissenschaften von ihren geisteswissenschaftlichen, philosophischen und geschichtlichen Wurzeln übernimmt die Wirtschaftsethik heute die Rolle eines Türöffners für neue Antworten auf diese zentrale Sinn-Frage unseres Wirtschaftssystems. Sie befreit uns damit vom aseptischen Theorem der Wert-Freiheit ökonomischer Entscheidungen.

Eingebettet in Philosophie und Politische Ökonomie hatte Wirtschaftsethik auch schon viel früher einen hohen Stellenwert. Fast immer ging es um den Zielkonflikt von Eigen und Gemeinnutz, aus dem uns der Moralphilosoph Adam Smith einen diesen Konflikt dialektisch auflösenden Ausweg zeigte. Ihm verdanken wir bekanntlich die Metapher von der „unsichtbaren Hand“, dank derer die durch effiziente Herstellung von Gütern und Dienstleistungen entstandene Wertschöpfung über den Umweg dadurch leistbarer öffentlicher Güter eben auch der Allgemeinheit zu Gute kommt. John Rawls verkürzte diesen elementaren Zusammenhang in seiner 1971 veröffentlichten „Theorie der Gerechtigkeit“ auf die lapidare Feststellung, arbeitsteiliges Wirtschaften sei ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.

In der damals noch jungen Management-Lehre der 60-er und 70-er Jahre des vorigen Jahrhunderts spielten „Business Ethics“ ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Anstoß dazu kam nicht zuletzt von Peter F. Drucker, dessen Geburtstag sich im November dieses Jahres zum hundertzehnten Mal jährt. Als „Erfinder“ des modernen Managements gab er den Führungskräften in Anlehnung an den hippokratischen Eid das Prinzip des „Primum Non Nocere“ („Doing no harm“) mit auf den Weg. Als elementare Erscheinungsform dessen, was wir heute „Corporate Social Responsibility“ nennen, gehörte diese Anweisung zum Ehrenkodex der Unternehmenskultur der damaligen Big Companies.

Als der Wettbewerbswind rauher wurde, drängte sich ein weniger anspruchsvoller Wertekodex in den Vordergrund, der nüchtern postulierte, es sei innerhalb der jeweils geltenden gesetzlichen und wettbewerblichen Regeln einziger Hauptauftrag des Managements, die Unternehmensergebnisse zugunsten der Shareholder zu maximieren.

„The business of business is business“: dieses lapidare Motto des Milton Friedman stand für ein im damaligen Umfeld zunächst durchaus nachvollziehbares „Reinheitsgebot“ des Handelns von Führungskräften. Es war eine Zeit der Unschuld auch in der Nationalökonomie, in der noch der „Homo Oeconomicus“ als Modellfigur der gesamten Mikro-Ökonomie herhalten durfte, ohne dass dies irgendjemand angefochten hätte.

Mittlerweile hat sich das Handlungs-Umfeld der großen Unternehmen jedoch grundlegend gewandelt. Globalisierung, Digitalisierung, Verteilungsfragen, Umweltthemen: all dies erfordert neue Antworten und macht es unabdingbar, die Panzer der Maximierungszwänge abzulegen und wieder ein ganzheitlicheres Rollenbild akzeptieren. Das ist bei anhaltendem Ergebnisdruck der Investoren allerdings leichter gesagt als getan.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass sich vierzig Jahre nach dem Schwur auf die „Shareholder-Value“-Interessen der „Business-Round-Table“ der CEO´s der größten amerikanischen Unternehmen erst im August dieses Jahres dazu durchgerungen hat, ein gemeinsames Bekenntnis zur Mitverantwortung des Managements für Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und die gesamte Gesellschaft abzugeben, d.h. auch die so genannten „Stakeholder“ in ihr Handeln einzubeziehen.

Besondere wirtschaftsethische Herausforderungen in der Finanzwirtschaft

Wie aber steht es um die spezifischen wirtschaftsethischen Herausforderungen der Finanzwirtschaft? Deren Akteure spielen ja seit der Finanzkrise 2008 – ob freiwillig oder unfreiwillig – tragende Rollen im Drama der schleichenden De-Legitimierung eines einseitig an Kapitalmarktinteressen ausgerichteten Wirtschaftsstils. Die Gründe dafür sind vielfältig, haben aber wohl mit der Tatsache zu tun, dass wie mehr als ein Jahrzehnt danach vor allem im europäischen Umfeld von einer neuen Normalität noch weit entfernt sind:

  • Die globalen Großbanken stellen – ungeachtet aller Stresstests – nach wie vor ein systemisches Risiko dar. Das Problem des „too big too fail“ ist aufgrund ihrer ungenügenden Eigenkapitalausstattung nicht überzeugend ungelöst.

  • Die Bankenregulierung nach dem Regelwerk von „Basel III“ ist ins Unüberschaubare angewachsen. Der englische Notenbanker Andrew Haldane wählte dafür die treffliche Bezeichnung „Turmbau zu Basel“ .

  • Ambitionen hin zu wirklich nachhaltigen regulatorischen Weichenstellungen scheitern meist an der Dominanz der interessenspolitischen Positionen der Großbanken gegenüber Forschung und Politik

  • Die Notenbanken operieren im Modus einer permanenten Krisenintervention. Ihre Strategie extrem niedriger Zinsen sowie des massiven Ankaufs von Staats- und Unternehmensanleihen („Quantitative Easing“) verlieren jedoch an Glaubwürdigkeit. Risikoarme Formen der Vermögensbildung und Altersvorsorge werden dadurch benachteiligt.

  • „Windfall-Profits“ aus spekulativen, durch diese Notenbankpolitik begünstigten Veranlagungen führen zu offenkundigen Verteilungsproblemen und systematischer Benachteiligung traditioneller Wertschöpfungs-Prozesse.

Auch auf einzelwirtschaftlicher Ebene ist der Krisenzustand noch nicht ausgestanden. Das Finanzsystem erweist sich vielmehr als permanente wirtschaftsethische Großbaustelle, mit von falschen Anreizsystemen geförderten Geschäftspraktiken in den Übergangszonen von grenz-legalem Handeln und Gesetzesbruch.

Einige wesentliche Problemfelder seien exemplarisch genannt:

  • Fragen der Steuervermeidung und der extensiven Nutzung transnationaler Gestaltungsspielräume zur Minimierung oder Umgehung von Unternehmenssteuern oder privater Besteuerung („Panama-Papers“, „Luxemburg-Leaks“).

  • In engem Zusammenhang damit die Bekämpfung von Geldwäsche sowie die Ahndung der nach extrem langer Anlaufzeit mittlerweile zu Recht als Betrugshandlung eingestuften Cum-Ex-Geschäfte

  • Fehlberatung und Kundentäuschung im Zusammenhang mit intransparenten Fondsprodukten und spekulativen „Finanzinnovationen“ aller Art

  • Vorwürfe hinsichtlich Bilanzfälschung oder unzulässiger Dehnung von Bilanzierungsregeln

  • Exzessive Nutzung von Bonussystemen und Management-Incentives

Zwar haben sich die vom Gesetzgeber und den Regulatoren zugelassenen Spielräume seit der Finanzkrise vielfach stark verengt und eine ganze Reihe von Geschäftspraktiken, die in früherer Zeit als „Usance“ eingeordnet wurden, ziehen heute bereits zivil- oder strafrechtliche Sanktionen nach sich. Aber die genannten Problemfelder einer finanzkapitalistisch ausufernden Praxis mit ihrer einseitigen Erfolgsethik lassen sich mit dem nach der Krise feststellbaren gesetzgeberischen und regulatorischen Überschwang allein nicht lösen.

Paradoxerweise gewinnt die persönliche Haltung in wirtschaftsethischen Entscheidungsfragen sogar wieder umso mehr an Gewicht, je dichter der Paragraphen- und Regulierungs-Dschungel wird. Denn die bloße Einhaltung noch so komplexer Regelwerke ist nun einmal keine Gewähr für anständiges Verhalten. Die geforderte, ausführliche Dokumentation der Einhaltung formalisierter Ethik-Richtlinien ist „Nice to have“. Sie kann jedoch die individuelle Verantwortlichkeit in den zahlreichen, unvermeidlichen, eben nicht kodifizierbaren ethischen Zielkonflikten des beruflichen Alltags nicht ersetzen.

Es geht bekanntlich im realen Wirtschaftsleben nicht immer um klar geregelte Tatbestände, sondern häufig um Übergangszonen und Graubereiche zwischen dem eindeutig Verbotenen und dem gerade noch Legalen, sowie um Zielkonflikte zwischen Zweit- und Drittbesten Lösungen. Im Augenblick der Entscheidung bleibt da jenseits aller formalisierten Regeln oft nur mehr das Gewissen im Sinne der Ver-Gewisserung, das Richtige zu tun.

Warum sich Wirtschaft und Ethik nicht voneinander trennen lassen

Der Versuch, Aktionsspielräume wirtschaftlicher Verantwortungsträger durch die strafrechtliche Sanktionierung von Grenzüberschreitungen so rigide einzuengen, dass künftige Verfehlungen weitgehend ausgeschlossen bleiben, muss jedenfalls immer unvollständig bleiben und zeitigt darüber hinaus beträchtliche rechtsstaatliche Kollateralschäden. Nicht ohne Grund gilt die Übernahme von Führungsverantwortung in Banken heute bereits per se als risikoreich.

Gerade weil das so ist, scheint auch Skepsis gegenüber jenen selbsternannten Tugendwächtern in den Sozialen Medien angebracht, die nicht selten über einzelne Personen oder die ganze Finanzbranche den Stab brechen, ohne mit den grundlegenden Funktionsweisen der Banken und Kapitalmärkte vertraut zu sein. Es sei gestattet, dazu Kardinal Josef Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI, zu zitieren, der in einer Schrift aus dem Jahr 1986 wörtlich meinte: „Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral“.

Die eigentlichen Ursachen der Finanzkrise liegen nun einmal nicht in erster Linie in den persönlichen Schwächen der Personen in den Führungsetagen. Sie sind vielmehr zutiefst systemischer Natur und müssen daher auf Ebene der Schaffung tauglicher Rahmenbedingungen finanzwirtschaftlichen Handelns kuriert werden. Vor allem aus diesem Grund gibt es eine tiefreichende sozialethische Mitverantwortung der maßgeblichen Akteure, an deren Ausgestaltung aktiv mitzuwirken.

Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik hilft hier nur bedingt weiter, allein schon deshalb, weil von Gesinnungsethik heute meist nur dann die Rede ist, wenn das „Gut Gemeinte“ (gesinnungsethische) gegen das „Gut Gemachte“, Pragmatische (verantwortungsethische) ausgespielt wird – womit man Max Weber im Übrigen unrecht tut, weil er in den beiden Begriffen nicht nur Gegensätze sieht, sondern vielmehr einander ergänzende Dimensionen von ethischem Verhalten.

Dazu passt eine Anekdote, die dem österreichischen Zeitkritiker und Satiriker Karl Kraus zugeschrieben wird. Er soll zu einem jungen Mann, der ihm von seinem Studien-Wunschfach „Wirtschaftsethik“ erzählte, in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wörtlich gesagt haben: "Studieren Sie besser entweder das eine oder das andere!". Ähnlich argumentierte später, in den Siebzigerjahren, Niklas Luhmann: "Es gibt Wirtschaft, es gibt Ethik - aber es gibt keine Wirtschaftsethik."

Diese Trennung der Wirtschafts- von der Wertewelt greift jedoch schon deshalb zu kurz, weil große Unternehmen der Realwirtschaft wie der Finanzbranche eine Rolle zukommt, die weit über die eines Produzenten oder Dienstleisters hinausgeht. Längst spielen sie je nach Größe und Einflussmacht neben den drei Verfassungs-Gewalten (Legislative, Exekutive, Justiz) und den Medien als „Vierter Gewalt“ die Rolle einer „Fünften Gewalt“. Damit ist zugleich eine neue Form der gesellschaftspolitischen Mitverantwortung entstanden.

Vier Ebenen der wirtschaftsethischen Bewährung

Zur genaueren Abgrenzung der wesentlichen wirtschaftsethischen Handlungsfelder lassen sich vier Ebenen unterscheiden, die mit den dafür gebräuchlichen Begriffen aus der Managementlehre korrespondieren:

  • Die Mikroebene des individualethischen Handelns im Unternehmen. Sie betrifft das Verhalten der Einzelperson in Entscheidungssituationen ebenso wie die innerhalb von Unternehmen und Organisationen dafür festgelegten Regeln (Compliance / Code of Conduct)

  • Die Mesoebene der verantwortlichen Unternehmensführung (Corporate Governance): Hier geht es um Verhaltensregeln sowohl innerhalb des Organisationsgefüges von Unternehmen und Organisationen als auch gegenüber Eigentümern (Shareholder) und Marktpartnern.

  • Die Makroebene der Mitverantwortung (Corporate Social Responsibility) für andere vom Handeln der Unternehmen und Organisationen betroffenen Gruppierungen (Stakeholder). Auf dieser Ebene sind vor allem auch Antworten auf wirtschaftsethische Entscheidungsfragen im Zusammenhang mit sozialen und ökologischen Zielkonflikten gefragt.

  • Die Metaebene der sozialethischen Mitverantwortung für die Gestaltung geeigneter Rahmenbedingungen des Wirtschaftens.

In einem politischen Umfeld, das sich durch die Einflussnahme finanzstarker Gruppierungen der Gefahr ausgesetzt sieht, den Kampf „Wall Street versus Main Street“ zu verlieren, wird die unternehmerische Mitverantwortung für eine dem Ganzen verpflichtete Ausgestaltung der Rahmenbedingungen – auch wenn sie kurzfristig Brancheninteressen widersprechen mögen – zu einer demokratiepolitisch unverzichtbaren Übung. Die vorbildhafte schweizerische Konzernverantwortungsinitiative ist ein wichtiger Teil davon. Es geht um nicht weniger als „die Erneuerung des Leitbildes einer sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten, wirtschaftlich-produktiven Ordnung“. (Caritas in Veritate)

Oder, um es mit der pragmatischen Formulierung von Peter F. Drucker zu begründen: „Freie Marktwirtschaft kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Wirtschaft ist, sie kann nur damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Gesellschaft ist“.

Wohl auch deshalb ist Unternehmensethik längst zur Führungsaufgabe geworden – unabhängig davon, ob das als Teil einer gelebten Unternehmenskultur gewissermaßen intrinsisch geschieht, oder, in größeren Unternehmen, explizit gemacht und in die Regelwerke eines Governance Code oder Code of conduct gegossen wird. Es geht hier letztlich um eine jedes Unternehmen prägende Vorbildfunktion von Führungskräften („the tone at the top“), deren Gelingen darüber bestimmt, wie sich die einzelnen Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens, gegenüber den Kunden, den Mitbewerbern und der öffentlichen Sphäre verhalten. Moralisches Verhalten wird in einem solchen Verständnis nicht als Restriktion von Effizienz wahrgenommen, sondern vielmehr als deren Voraussetzung. Damit hebt sich der erwähnte „Dualismus“ von Ethik und Wirtschaft ganz von selbst auf.

Die ordnungspolitische Mitverantwortung der Wirtschaftseliten

Es gibt also eine Mitverantwortung auch der so genannten Finanzeliten für neue, werte-basierte Spielregeln dessen, was der Schweizer Religionsphilosoph Hermann Lübbe einmal so schön „Zivilisationsökumene“ genannt hat. Diese Mitverantwortung liegt in ihrem zutiefst eigenen Interesse schon deshalb, weil ein nachhaltiger Legitimationsverlust unseres gegenwärtigen Wirtschaftsstils zu ihrem größten Schaden wäre.

Vertreter von Ideologien, denen eine freie Wirtschaftsordnung immer schon fremd war, nützen die heutige Situation schon heute für sich und verbünden sich auf der äußeren rechten wie auf der äußeren linken Seite des politischen Spektrums mit den Gegnern des so genannten „Neo-Liberalismus“. Auch in Teilen der Medien hat sich eine Systemkritik etabliert, die – festgemacht an unbestreitbaren Fehlentwicklungen – marktorientierte Wirtschaftssysteme als Ganze in Frage stellt. Im Mahlstrom dieses „Weltuntergangs-Diskurses“ (Matthias Horx) werden Störungen nicht mehr als Ausnahme von der Normalität wahrgenommen, sondern als Beweis für das Nicht-Funktionieren des Ganzen. Die damit einhergehende Legitimationskrise unseres Wirtschaftssystems ist jedoch schon deshalb gefährlich, weil es mangels fundamentaler Systemalternativen fatal wäre, das Kind mit dem Bade auszuschütten und nach dem ganz Anderen zu rufen.

Denn mit Marktsystemen ist es wohl ähnlich wie mit der Demokratie, von der Churchill bekanntlich überspitzt gesagt hat, sie sei die schlechteste aller Staatsformen, er kenne jedoch keine bessere. So wie es unter den unterschiedlichsten Spielarten von Demokratie zu unterscheiden gilt, welche davon am sinnvollsten erscheint, ist dies auch bei den unterschiedlichen Spielarten von Marktwirtschaft angebracht.

Wenn wir also vermeiden wollen, dass das Fehlen eines schlüssigen Konzeptes für eine globale Wirtschaftsordnung zu einer schleichenden Legitimationskrise der Marktwirtschaft und einem Rückfall in protektionistische Reflexe führen, müssen wir die Aufgabe einer ordnungspolitischen Erneuerung ernster nehmen als bisher. Andernfalls wäre die Verbindung von hocheffizienter Wettbewerbswirtschaft, sozialer Stabilität und persönlicher Freiheit, wie wir sie in den Marktwirtschaften europäischen Zuschnitts bis heute genießen dürfen, in ihrer Substanz gefährdet. Der erste Schritt dorthin führt über die Emanzipation Europas gegenüber dem allzu lang unkritisch kopierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der USA und einem Wieder-Anknüpfen an den ordnungspolitischen Traditionen Kontinental- und Nordeuropas.

Es muss uns gelingen, das Aufgreifen der genannten wirtschaftsethischen Herausforderungen zu einer so wichtigen gesellschaftspolitischen Angelegenheit zu machen, dass es Sozialprestige verleiht, an diesem Wandel aktiv mitzuwirken. Den Universitäten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, stehen sie doch vor der schwierigen Aufgabe, die inhaltliche Einflussnahme großer Unternehmen und Finanzinstitute in Grenzen zu halten, zumal die aktuelle Situation auch die Befassung mit auf den ersten Blick unangenehmen Fragen erfordert.

Die ermutigenden Resultate Ihrer Universität zeigen eindrucksvoll, dass die Mitwirkung an der Entwicklung einer globalen Wirtschaftsordnung, die Wert-Schöpfung für Alle zum übergeordneten Ziel hat, sinnvoll ist und zu konkreten, positiven Veränderungen beitragen kann. Ich wünsche Ihnen auf diesem Weg weiterhin viel Erfolg!

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