Rollenerwartungen an Aufsichtsräte

Systemversagen oder Organversagen? Rollenerwartungen an Aufsichtsräte in der Krise

 

Beitrag für „Aufsichtsrat aktuell“, Juni 2010

Die Erwartungen an Aufsichtsräte sind im Zuge einer verstärkten Kapitalmarktorientierung  in den vergangenen Jahren gestiegen. Mit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise haben sich die Anforderungen aller Anspruchsgruppen an die Qualität des Managements und seiner Aufsichtsorgane weiter verstärkt. Nicht selten verbinden sich Vorwürfe in Richtung „Organversagen“ mit überzogenen Erwartungen an eine verbesserte Aufsicht. Systemische Krisenursachen bleiben hingegen meist ausgeblendet.

Dieser Beitrag geht zum einen der Frage nach, wie realistische Rollenerwartungen an Aufsichtsräte aussehen können. Zum anderen soll eine Analyse der systemischen Ursachen der Finanzmarktkrise die Beantwortung der Frage „Systemversagen oder Organversagen?“ erleichtern. Schließlich werden die aus der Sicht des Autors wesentlichen Elemente eines zeitgemäßen Aufsichts-Verständnisses beleuchtet.

Kapitalmarktoriente Spielregeln ergänzen das Aktienrecht

Die aktuellen Vorstellungen von sachgerechter Aufsichtsratsarbeit stehen im Gegensatz zu früheren (Zerr-)Bildern einer oft unverbindlichen Ehrenfunktion. Es wäre andererseits glatte Geschichtsfälschung, würde man alle traditionellen Formen der Aufgabenerfüllung von Aufsichtsräten ex post für ungenügend erklären. Immerhin fanden die Gremien von Kapitalgesellschaften über Jahrzehnte mit dem Aktiengesetz als einem soliden Referenzrahmen für korrektes und professionelles Handeln das Auslangen. Die überwiegende Zahl der erfolgreichen Unternehmen war durch sachgerechte Formen der „Gewaltenteilung“ zwischen Geschäftsleitung, Aufsichtsgremium und Hauptversammlung geprägt. Nicht zufällig stand ein geringerer Unternehmenserfolg sehr häufig in engem Zusammenhang mit einer vernachlässigten, die Interessenssphären unzulässig vermengenden Aufsichts-Kultur.

Mit zunehmender Ausrichtung an der anglo-amerikanischen Kapitalmarktorientierung verfestigte sich allerdings seit Ende der Neunzigerjahre die Vorstellung, es sei mit den Bestimmungen des Aktienrechtes nicht mehr das Auslangen zu finden. Die beeindruckend klare, den Zielkonflikt zwischen Shareholder- und Stakeholder-Interessen beschreibende Definition der Aufgaben des Vorstandes im Aktiengesetz schien als Handlungsmaßstab für den Aufsichtsrat nicht mehr zu genügen.

Unter Hinweis auf Fehlentwicklungen, wie sie sich in jeder lebendigen Wirklichkeit im Vergleich zu normierten Leitbildern zeigen, wurden die traditionellen Normen des Aktiengesetzes für ungenügend erklärt und mit Idealvorstellungen verglichen, die aus der Vorstellungswelt großer, börsennotierter Publikumsgesellschaften stammten. Über das Aktienrecht hinausgehende, ergänzende Spielregeln sollten sicherstellen, dass das Richtige geschah. An zahlreichen Finanzmärkten zeitgleich entstehende Corporate-Governance- Codices bemühten sich um Präzisierung des Rollenbildes von Aufsichtsräten.

Begrenzung der Dauer der Angehörigkeit zu einem Gremium, Begrenzung des Lebensalters, bis zu dem man als aufsichtsratstauglich gelten durfte, Einführung einer verbindlichen „cooling off“-Periode zwischen Vorstandsfunktion und Einzug in das Aufsichtsgremiums eines Unternehmens: diese Beispiele stehen für ein ganzes Bündel von Regelungen, deren Einführung stillschweigend zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Einhaltung aufsichtsrechtlicher Tugenden führte.

Zunächst wurde die Corporate-Governance-Bewegtheit allgemein begrüßt. Sie galt als Wundermittel gegen den Trott aufsichtsrechtlicher Routine in herkömmlichen Gremien, aber auch als willkommene Begründung für Aufräumarbeiten in den vertraulichen Hinterzimmern jener „Deutschland AG“, die zum Symbol einer aktionärsfeindlichen Seilschaft einander privilegierender Räte kritisiert geworden war.

„Comply or explain“: Der Imperativ kapitalmarktorientierter Unternehmensführung

Die Überzeichnung von in der überkommenen Aufsichtspraxis durchaus feststellbaren Missständen war jedoch begleitet von einer Überzeichnung der Vorteile des neuen  Ansatzes. Die an eine immer weitergehende, immer detailreichere Regulierung und Normierung unternehmerischer Realverfassungen geknüpften Erwartungen wuchsen nahezu ins Unerfüllbare. Als übergeordnete Begründung diente die vermeintliche Notwendigkeit, sich der als vorbildhaft dargestellten angloamerikanischen Kapitalmarktkultur möglichst weit anzunähern.

Das gebieterische „Comply or explain“ fand nicht nur auf die Erfüllung von Governance- Regeln Anwendung, sondern wurde unausgesprochen zu einem alle Bereiche der Unternehmenswelt durchziehenden Imperativ der Angleichung der Unternehmensverfassung an angloamerikanische Vorbilder. Die Überzeugung von der Tauglichkeit zeitpunktbezogener Marktwerte als Signale für finanzwirtschaftliche Dispositionen führte bald zu einem allgemein geteilten Glauben an die Überlegenheit des kapitalmarktorientierten Ansatzes. Die „efficient market hypothesis“ – verkürzt wiedergegeben im Mantra „Der Markt hat immer Recht“ – lieferte die akademische Rechtfertigung dazu.

Über viele Jahre sah sich die kontinentaleuropäische Unternehmenswelt mit ihrer traditionellen Unternehmensverfassung in der Defensive. Über den Atlantik – und den Ärmelkanal – drängte der Appell auf das Abrücken von vermeintlich überkommenen Finanzierungstraditionen. Gefordert wurde nicht weniger als eine grundlegende Änderung des Referenzrahmens, an dem gute Unternehmensführung zu messen ist.

Spektakuläre Einzelfälle wie der Kauf von Mannesmann durch Vodaphone waren Teil eines letztlich erfolgreichen ideologischen Feldzuges zur Durchsetzung einer einseitig am Kapitaleigner-Mehrwert orientierten Finanzmarktkultur. Ihre vermeintliche Überlegenheit korrespondierte mit einem Unterlegenheits-Komplex der Europäer, die sich eilfertig an die Revision lange bewährter Finanzierungsgrundsätze machten. Viele der angeblich behäbigen Unternehmen Kontinentaleuropas mit ihren oft über lange Generationen hinweg familiengeprägten Eigentümerstrukturen blieben allerdings bis zuletzt skeptisch.

Im Rückblick ist es erstaunlich, dass nicht einmal der im Gefolge der „New Economy“-Krise aufgetretene Fall Enron zu mehr Nachdenklichkeit auf dem Weg in die schöne neue Kapitalmarktwelt geführt hat. Die nachfolgende Verstrengerung der Regeln für an US-Börsen notierende Unternehmen – einschließlich des im „Sarbanes-Oxley-Act“ verankerten Zwanges, das Management auf die von ihm verkündeten Bilanzergebnisse vereidigen zu lassen – ,wäre wohl ein ausreichender Anlass zur kritischen Überprüfung der Überlegenheits-Hypothese gewesen.

Der Aufeinanderprall der angloamerikanischen mit der kontinentaleuropäischen Finanzierungskultur führte insbesondere im finanzwirtschaftlichen Bereich zu einem „Clash of Cultures“, dessen Auswirkungen auf die Realwirtschaft und damit auch die Sphäre der Unternehmensaufsicht beträchtlich sind. Zu Anfang des Jahrzehnts waren diese Entwicklungen schon im Ansatz erkennbar, ohne dass dies zu Konsequenzen geführt hätte. Die Auswirkungen der „New Economy“-Krise waren damals wohl zu wenig tief und zeitlich zu kurz, als dass man daraus systemische Schlüsse gezogen hätte.

Bilanzierungsregeln als Auslöser der Finanzmarktkrise

Besonders deutlich wird der Kontrast der unterschiedlichen – und in einigen Bereichen sogar unvereinbaren – Finanzierungskulturen an den Bilanzierungsregeln. Das sukzessive Abrücken von einer Orientierung am Gläubigerschutz – und daher im Zweifel vorsichtigeren Bilanzansätzen – hin zu einer vermeintlich an Anlegerinteressen orientierten Praxis der Marktwertorientierung, hat sich als höchst problematisch erwiesen. Das auf den ersten Blick schlüssige Konzept, durch Ansatz von Marktwerten für möglichst alle Vermögenswerte (Assets) ein Höchstmaß von Transparenz für Aktionäre und Anleger herzustellen, wurde zum prozyklischen Treibsatz bilanzieller Expansion. In Phasen der Aufwärtsentwicklung der Marktwerte erwuchsen daraus meist rasche Erfolge, die durch Kurssteigerungen und Anerkennung des Managements belohnt wurden. In der Krise lösten diese prozyklisch wirkenden Regeln eine fatale Abwärtsspirale in die umgekehrte Richtung aus.

Im Bankensystem und in der Immobilienwirtschaft bewirkte die Umstellung von früheren HGB (bzw. UGB-)Bilanzierungsregeln auf jene von IAS bzw. IFRS sowie US-GAAP eine noch ausgeprägtere Dynamik in diese Richtung. Jede Steigerung des Marktwertes finanzieller Assets auf der Aktivseite der Bankbilanz führte zu einer entsprechenden Erhöhung des Eigenkapitals. Das höhere Eigenkapital ermöglichte – bei Aufrechterhaltung der regulatorisch gebotenen Relation zu den Fremdmitteln – eine Erhöhung der Verschuldungskapazität und eine damit verbundene Erweiterung der Bilanzsumme.

Zusätzlich verstärkend wirkte das Regulativ von Basel II, mit dem eine Risikogewichtung des Eigenmitteleinsatzes für Ausleihungen entlang von Rating-Klassen eingeführt wurde. Eine – wie wir heute wissen – letztlich doch nur kurzfristig gültige Einstufung durch Rating- Agenturen wurde damit zum Maß der gewichteten Eigenmittelunterlegung.

Im Extremfall genügten bei strukturierten Wertpapieren der höchsten Rating-Klasse 1,6 Prozent Eigenmitteleinsatz für eine Ausleihung von 100. Dies entsprach 20 Prozent der vorgeschriebenen Normal-Quote von ohnehin nur bescheidenen 8 Prozent. In den Jahren vor Ausbruch der Finanzmarktkrise erhöhte dieser Mechanismus den Fremdmittel-Hebel (Leverage) der Großbanken auf zuvor nie gekannte Niveaus. Auf diese Weise erwies sich Basel II als eingebauter De-Stabilisator des Finanzsystems, obwohl es doch für dessen Stabilisierung geschaffen worden war.

Der ab Sommer 2007 vom US-Immobilienmarkt ausgehende Zusammenbruch der Märkte für strukturierte Wertpapiere (Asset Backed Securities), einer Produktklasse, die bis zum damaligen Zeitpunkt noch keinen ernsthaften Realitätstest zu bestehen hatte, löste eine massive Liquiditäts- und Solvabilitätskrise aus. An deren Höhepunkt führte die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 zu einem rapiden Vertrauensverfall auf den Kapitalmärkten.

Ein Totalzusammenbruch der Finanzmärkte konnte nur durch sofortige, global koordinierte Liquiditätshilfen der Notenbanken in Kombination mit einer gleichfalls international abgestimmten Intervention der Regierungen verhindert werden. Einlagegarantien für Sparer, Staatsgarantien für Bankanleihen sowie Kapitalmaßnahmen für das Bankensystem mit Nachrangkapital und direkter staatlicher Kapitalzufuhr sicherten die Grundfunktionen der Banken ab.

Nicht verhindert werden konnte das Übergreifen der Vertrauenskrise auf Konsumenten und Investoren. Weite Teile der Realwirtschaft wurden durch Umsatzrückgänge massiv getroffen. Die negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungsquoten konnten durch Arbeitsmarkt- und Konjunkturmaßnahmen nur zum Teil gedämpft werden. Ausgehend von der Tatsache, dass die Verschuldungs- und Haftungskapazität der öffentlichen Haushalte – nicht zuletzt auch wegen stark sinkender Steuereinnahmen – an ihre Grenzen stößt, ist mit einer noch für mehrere Jahre äußerst gedämpften konjunkturellen Dynamik zu rechnen.

Systemversagen oder Organversagen?

Bemerkenswert ist, dass die hier in sehr komprimierter Form geschilderte Krise der Finanzmärkte bzw. des einseitig kapitalmarktorienterten Wirtschaftens durch eben jene Finanzmarktarchitektur wesentlich mit verursacht wurde, die auch für das „Comply or explain“ der Shareholder-Value-orientierten Unternehmenskultur prägend ist. Selbst bestgeführte Unternehmen mit perfekter, regelkonformer Governance waren im vergangenen Jahrzehnt Teil der damit verbundenen Finanzmarkt- und Unternehmenskultur, die sich nun als in wesentlichen Teilen höchst korrekturbedürftig erweist.

Was bis heute weitgehend fehlt, ist eine offene Diskussion über die offenkundigen Systemmängel bisher hochgehaltener Dogmen und das damit verbundene Eingeständnis, dass es nicht nur oberflächlicher Korrekturen, sondern eines echten Paradigmenwechsels bedarf, um eine Wiederholung der Finanz- und Wirtschaftskrise zu verhindern und den schon eingetretenen, enormen Schaden zu begrenzen.

Es macht wenig Sinn, im Nachhinein die Krise durch die Suche nach Schuldigen erklären und korrigieren zu wollen. Abgesehen von jenen Fällen, in denen es zu rechtlich relevantem Fehlverhalten kam, hat die große Zahl der Vorstände und Aufsichtsräte innerhalb der vor der Krise geltenden Maßstäbe durchaus professionell und meist wohl auch gewissenhaft gehandelt.

Für ebenso wenig erfolgversprechend halte ich den Ansatz, an die Moral zu appellieren und auf Abschaffung der Gier zu hoffen. Ein neues Sitten-Regulativ oder gar die Verankerung von Gier-Verboten in Corporate Governance Codes wäre wenig hilfreich. Denn dass Anstand, Geradlinigkeit und Abstraktion von Eigeninteressen zu den Grundeigenschaften von Mitgliedern aller Gremien von Unternehmen gehören sollten, war wohl auch schon vor der Krise evident.

Dass die Krise eingetreten ist, war nicht vorrangig die Folge von Sündenfällen, sondern Konsequenz einer kollektiven, von den Wirtschafts-, Wissenschafts-, Medien- Anleger- und Politik-Eliten mitgetragenen Fehlentwicklung. Die eigentliche Moral der Geschichte liegt deshalb in der Pflicht, aus der neu gewonnenen Klarheit über die krisenverursachenden Systemelemente die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Dieses Unterfangen kann uns nicht leicht von der Hand gehen. Das Eingeständnis, als Führungskraft oder Aufsichtsrat mit bestem Wissen und ohne Unrechtsbewusstsein letztlich eine kollektive Systementgleisung mit verursacht zu haben, ist nämlich kaum weniger schmerzhaft als der Weg einer Individualisierung der Schuld, mit dem man nur die Notwendigkeit grundsätzlicher Systemkorrekturen verdrängt.

Gerade wenn es sich bei der Krise nicht um ein Einzelnen zurechenbares, schuldhaftes Organ-Versagen, sondern um ein System-Versagen handelt, trifft Vorstände oder Aufsichtsräte umso mehr die Verpflichtung, konsequent um die Verbesserung der Rahmenbedingungen bemüht zu sein.

Reform der Incentive-Systeme für Führungskräfte

Ein besonders sensibles Anwendungsfeld solcher Systemkorrekturen liegt im Bereich der Remunerations- und Incentive-Systeme für Führungskräfte. Sie haben gerade im Bankbereich – vor allem im angloamerikanischen Raum – zu sonderbaren Auswüchsen geführt, die toleriert wurden, solange die Erwartungen der Shareholder erfüllbar waren. Nach der Notwendigkeit, das Banksystem durch Staatsgarantien und Steuermittel aufzufangen, ist die Bereitschaft, überzogene Incentive-Systeme zu akzeptieren, in den Medien und in der von den Krisenschäden betroffenen Bevölkerung weitgehend verschwunden.

Die meisten Incentive-Programme für Führungskräfte waren auf zeitpunktbezogene Maßstäbe wie die jeweilige Börsenkapitalisierung abgestellt. Mittlerweile scheint sich in diesem Bereich die Meinung durchzusetzen, man müsse nun wieder auf nachhaltigere, echte Wertschöpfung messende Indikatoren setzen und kurzfristige, an Markt- und Kurswerten orientierte stock-option-Programme abbauen.

Es irritiert bisweilen, dass die selben hochspezialisierten Berater, aus deren Feder die – so ist zu hoffen – auch zuvor nicht leichtfertig und ohne Bedachtnahme auf Nachhaltigkeit geschaffenen Incentive-Programme stammen, nun wieder zu den Avantgardisten der neuen Mode gehören. Und es sind oft die gleichen Aufsichtsräte, die sich nun mit der Revision der einst unter dem Beifall der Analysten von ihnen selbst eingeführten Programme zu befassen haben.

Statt maßloses Verhalten auf Kosten Dritter durch überzogene Renditeerwartungen in Kombination mit wirklichkeitsfremden Bilanzierungsregeln und Incentive-Programmen zu fördern, werden jedenfalls im Bereich der Remuneration Regeln zu finden sein, die faires und maßvolles Verhalten besser stellen als „moral hazard“. Der deutsche Gesetzgeber verpflichtet mittlerweile Aufsichtsräte ausdrücklich dazu, die Angemessenheit von Gehaltsstrukturen zu überprüfen und bei nachteiliger Geschäftsentwicklung eine solcheAngemessenheitsprüfung sogar bis zu drei Jahre nach dem Ausscheiden von Führungskräften, vorzunehmen.

Ein verwandter Bereich, in dem gerade im Gefolge der Krise kapitalmarktorientierte Spielregeln korrigiert werden, ist der Eigenhandel von Führungskräften mit Aktien des von ihnen geführten Unternehmens. Seit kurzem ist eine EU-Richtlinie in Diskussion, mit der Vorstands-Trading wegen seiner Anfälligkeit für Insider-Vorfälle sogar verboten werden soll.

Schon bisher war es naheliegend, gegenüber Vorstands-Trading aus grundsätzlichen Gründen skeptisch zu sein – aber angesichts der übermächtigen Mainstream-Argumentation, das Engagement von Vorständen als Aktionär im eigenen Unternehmen fördere die Übereinstimmung der Management-Motivation mit den Zielen der Shareholder, wäre eine solche Skepsis bis vor kurzem als kapitalmarktschädlich eingeschätzt worden.

Umsichtig gegen systemische Risiken

Gerade in Banken haben sich die Akteure in den vergangenen Jahren oft in der Illusion gewiegt, die gewissenhafte Einhaltung von Prüfroutinen, wie sie etwa durch die Kontrollsysteme von Basel II auferlegt wurden, führten zu einer echten Beherrschbarkeit von Risiken im Rahmen anerkannter Methoden. Auch hier erwies sich die zugrundeliegende Theorie einer jederzeitigen Messbarkeit des zeitpunktgenauen Risiko-Exposures (Value at risk) als auf Sand gebaut, da die zugrundliegenden Parameter viel zu stark von Marktschwankungen abhingen. Die Illusion, alle Risiken genau zu kennen und jederzeit darauf reagieren zu können, lenkte von der Tatsache ab, dass sich im Hintergrund höchst gefährliche systemische Makro-Risiken – etwa die einer gefährlichen Asset-Inflation – aufbauten.

Die meist mit besten Rating-Noten ausgestatteten, strukturierten Wertpapier-Portfolios sollten dem Eingehen zu großer Engagements bei Einzelkrediten entgegensteuern und für Risikostreuung sorgen. Letztlich aber erwiesen sich die meisten dieser synthetischen Wertpapiere als ein systemisches Klumpenrisiko. Denn nach der Lehman-Insolvenz wurden für die einzelnen Risikotranchen keine Preise mehr gestellt. Gleichzeitig war für die dafür geschaffenen Investitions-Gesellschaften keinerlei Liquidität mehr verfügbar. Mittlerweile beginnen die Regulatoren diesen Produktbereich einzuschränken, indem sie die Banken zu höherer Eigenmittelunterlegung verpflichten und daran denken, einzelne, besonders sophistizierte, derivate Produkte überhaupt zu verbieten.

So wenig die Erfüllung von Regeln eigenverantwortliches Handeln ersetzen kann, so wenig ersetzt ständige Arbeit an der Optimierung von Unternehmensergebnissen den Blick auf das Ganze. Wenn Aufsichtsräte ihren Unternehmen wirklich nachhaltig dienen sollen, müssen sie Einsicht und Übersicht haben. Ein für eine solche Haltung schon etwas aus der Mode gekommenes Eigenschaftswort heißt: „umsichtig“.

Professionalisierung der Unternehmensaufsicht – überspannte Erwartungen?

Nicht selten ist in Verbindung mit erhöhten Anforderungen an die Unternehmenskontrolle davon die Rede, die Krise wäre uns erspart geblieben, hätten nur alle Aufsichtsorgane schon so gehandelt, wie es in Hinkunft von ihnen gefordert wird. In Analogie zur Antwort auf die Schuldfrage ist konsequenterweise auch hier von übertriebenen Zuschreibungen an das, was Aufsichtsräte vermögen, zu warnen.

Die aktuelle Finanzmarktkrise hat weite Teile der Unternehmerwirtschaft unvermittelt und gleichzeitig betroffen. Unter den letal geschädigten Unternehmen waren auch viele, deren Verantwortungsträger sich keine Versäumnisse vorzuwerfen hatten. Auch war es nicht selten eine Frage des Zufalls, ob ein Unternehmen von der Krise unmittelbar nach einer Großinvestition oder einem Unternehmenskauf gerade im Zustand relativer hoher Verschuldung getroffen wurde. Diese konnte nach den Maßstäben der Zeit vor Ausbruch der Krise durchaus maßvoll gewesen sein – und erwies sich dennoch als zu hoch, um den unerwarteten, abrupten Auftrags- und Einnahmenausfall mit nachfolgender Liquiditätskrise abzufangen.

Aufsichtsräte sollten deshalb nicht mit Erwartungen überfrachtet werden, die sinngemäß lauten: „solange ihr es nur richtig macht, wird das Unternehmen nicht gefährdet sein“. Eine solchermaßen überspannte Erwartungshaltung ignoriert nicht nur die ausschließliche Zuständigkeit des Vorstandes für die Führung des Unternehmens. Sie blendet vor allem aus, dass auch sehr gut geführte und kontrollierte Unternehmen von krisenhaften Situationen auf Grund von Technologiebrüchen, Marktveränderungen oder eben Finanzkrisen betroffen sein können, die nicht vorhersehbar waren.

Mehr hauptberufliche Aufsichtsräte

Gerade deshalb ist andererseits die Forderung nach weiterer Professionalisierung und Qualitätssteigerung in den Aufsichtsräten sinnvoll und längst überfällig. Der Druck in diese Richtung steigt nicht nur durch die noch auf längere Zeit schwierigere gesamtwirtschaftliche Situation, sondern hat eine Reihe von weiteren guten Gründen. Es gehört zu den Vorteilen des seit einigen Jahren gestiegenen Bewusstseins für „Corporate Governance“, dass die Notwendigkeit einer gelebten Gewaltenteilung zwischen den Gremien der operativen Führung, des Aufsichtsrates und der Eigentümer zunehmend auch in Unternehmen mittlerer Größe und familienunternehmerischen Zuschnitts erkannt wird.

Auch tragen die jüngsten Neuerungen des Aktienrechtes und die Neufassung des Corporate Governance Code der Notwendigkeit Rechnung, die Arbeit des Aufsichtsrates inhaltlich und zeitlich anzureichern. Insbesondere die hervorgehobene Rolle des Prüfungsausschusses, dem mindestens ein ausgewiesener Finanzexperte anzugehören hat, stellt einen substantiellen Fortschritt dar.

Mit der Professionalisierung der Funktion von Aufsichtsräten sowie der in den Corporate Governance Codices verankerten Beschränkungen hinsichtlich der Höchstzahl von Aufsichtsratsmandaten geht eine Tendenz zum stärkeren Einsatz hauptberuflicher Aufsichtsräte einher. Schon heute nehmen jene Aufsichtsräte, die die meisten Funktionen bekleiden, ihr Aufgaben-Portfolio in unterschiedlichen Unternehmen hauptberuflich wahr. Auch werden hauptberufliche Vorstände mit einem nebenberuflichen Aufsichtsratmandat in großen börsennotierten Gesellschaften immer seltener. Unter denjenigen Aufsichtsräten, die die meisten Mandate börsennotierter Unternehmen auf sich vereinigen, befindet sich kein einziger hauptberuflicher Vorstand.

Es handelt sich bei hauptberuflichen Aufsichtsräten also meist um Personen, die zunächst neben einer Vorstandstätigkeit das eine oder andere Aufsichtsratsmandat in anderen Unternehmen wahrgenommen haben. Erst nach Ausscheiden aus ihrer operativen Funktion stehen sie dann für die Übernahme mehrerer, gleichzeitiger Kontrollaufgaben in verschiedenen Unternehmen zur Verfügung und übernehmen damit nach Beendigung ihrer Management-Aufgabe die Rolle eines hauptberuflichen Aufsichtsrates.

Bei ausschließlicher Fokussierung der beruflichen Tätigkeit auf Aufsichtsratsfunktionen kann durchaus eine größere Anzahl von Mandaten professionell wahrgenommen werden. Allerdings unterscheiden die bestehenden Regeln der Mandatsbegrenzung nicht zwischen hauptberuflichen Aufsichtsräten und solchen, die ihre Mandate neben der Ausübung eines anderen Hauptberufes wahrnehmen. Wichtig ist, dass Zahl und Intensität der Aufgaben insgesamt so bemessen sind, dass über die in Normalzeiten erforderliche Zahl von Sitzungen hinaus auch noch Zeit für Sondersituationen verfügbar ist. Diese erfordern mitunter zeitnahes Agieren von Aufsichtsräten im Rahmen von Sondersitzungen und Telefonkonferenzen, für die bei der Bemessung der Höchstzahl wahrgenommener Mandate Pufferzeiten einzuplanen sind.

Erfahrungen, die hauptberufliche Aufsichtsräte in Unternehmen unterschiedlicher Eigentümerkonstellation sammeln, können einen wertvollen Fundus für ihre Tätigkeit darstellen. Aufsichtsrats-Know-How aus verschiedenen Gesellschaften lässt sich so gerade in jenen Themenfeldern wirksamer umsetzen, die zu den „Querschnittsmaterien“ solcher Gremien gehören: Offene, lösungsorientierte Diskussionskultur, personalpolitische Fragen, Konfliktzonen zwischen Unternehmensführung und Arbeitnehmervertretung, vor allem aber entsprechende Konsequenz in der Bearbeitung des unternehmerischen Zyklus von strategischer Orientierung, Planung, operativer Performance und Ergebniskontrolle.

Aufsichtsräte: die mächtigen Machtlosen

Das Repertoire der Einflussnahme des Aufsichtsrates auf die Gestion eines Unternehmens ist in der Praxis geringer, als es der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit entspricht. Da die Abberufung des Vorstandes durch den Aufsichtsrat nur eine ultima ratio in Sondersituationen darstellen kann, ist das Spektrum der aufsichtsrechtlichen Interventionen sehr eingeschränkt, zumal die voreilige Handhabung dieses Instruments den Aufsichtsrat in beachtliche Schwierigkeiten bringen kann. Darin liegt die reale Machtlosigkeit des Aufsichtsrates.

Letztlich bilden der Vorstand bzw. die Geschäftsführung von Kapitalgesellschaften und deren Aufsichtsrat eine Schicksalsgemeinschaft. Im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, Empathie und Objektivität, übergriffiger Einmischung und leichtgläubigem Laissez-Faire wirken sie im Idealfall in offener, vertrauensvoller und zugleich kritischer, das jeweilige Rollenverständnis respektierender Zusammenarbeit professionell zusammen. Nur so entsteht aus dem Zusammenwirken der Gremien eine gesteigerte Wertschöpfung zum Wohle des Unternehmens. Da es dem Aufsichtsrat – und hier insbesondere dem Vorsitzenden – obliegt, die Zusammenarbeit der Gremien mit Leben zu erfüllen, liegt die Macht zur gelungen Gestaltung bei ihm: in diesem Sinn ist er ein durchaus mächtiger Machtloser.

Die erforderliche Qualität kann jedoch nicht entstehen ohne ein Mindestniveau der Intensität und Dauer der Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsrat und Vorstand bzw. Geschäftsführung. Schon die grundlegendsten, gesetzlich vorgegebenen Aufgaben können nur mit Mühe in vier Sitzungen untergebracht werden – vor allem dann, wenn diese zu straff geführt werden und mangels Diskussionsmöglichkeiten zu kurz geraten. Zu empfehlen ist, dass in den im Normalfall auf mindestens einen halben Tag anberaumten Sitzungen Spielraum für intensive inhaltliche Auseinandersetzung freigehalten wird.

Die Befassung von Ausschüssen kann für die Schaffung dieser Freiräume nützlich sein. In spezieller Weise gilt dies für den obligatorischen Prüfungsausschuss, der die Gelegenheit gibt, neben einer Auseinandersetzung mit Methoden und Ergebnissen der Wirtschaftsprüfung regelmäßig das Interne Kontroll System (IKS), das Risikomangement-System und den Bereich der Revision durch intensive Information und Erkundung zu überwachen.

Mindestens ebenso viel Raum gebührt der Planung und Vorschau. Sie kann nur nachvollzogen und verstanden werden, wenn die Aufsichtsräte – gerade auch bei heterogener Zusammensetzung – ein Verständnis für das Stärke-/Schwächen-Profil, die Marktposition, das strategische Chancen-/Risikoprofil und das Produkt-/Markt-Portfolio entwickeln. Darauf aufbauend werden sie die Mengen- und Preisgerüste von Vorschaurechnungen, Planbudgets und Planbilanzen erst wirklich nachvollziehen und einer plausibilisierenden Diskussion unterziehen können.

Über all diese operativ-strategischen Erfordernisse hinaus liegt eine der zentralen Aufgaben von Aufsichtsräten, aufgrund ausreichender Vertrautheit mit den Gegebenheiten im Unternehmen in Zeiten des Übergangs und der Krise – etwa in Fragen der Besetzungspolitik – verfügbar und handlungsfähig zu sein. Auch diese Anforderung ist nur bei ausreichender Intensität und Qualität der Gremienarbeit erfüllbar.

Aufsichtsräte prägen die Unternehmenskultur mit

Es ist unverzichtbar, gemeinsame Sichtweisen zur grundsätzlichen Ausrichtung des Unternehmens und über die Mittelfrist-Strategie hinausreichende Szenarien zu erarbeiten. Darüberhinaus ist es notwendig, gemeinsame Vorstellungen vom angemessenen Modus der Unternehmensentwicklung zu erringen. So gibt es etwa Situationen, in denen auf Grund technologischer Zwänge – etwa kurze time-to-market-Fenster für Innovationen – aggressives Wachstum geboten ist, umgekehrt aber auch solche, in denen Konsolidierung wichtiger ist als die Verlockung, um den Preis einer hohen Abhängigkeit von externer Finanzierung Wachstum zu erkaufen.

Auch liegt es am Aufsichtsrat, in Fragen der unternehmerischen Verantwortung, die über die Wahrnehmung des Tagesgeschäftes hinausgehen, den Ton anzustimmen. Dies betrifft den Umgang mit so schwierigen Themen wie Korruptionsbekämpfung, Steueroptimierung oder den angemessenen Umgang mit den Spielräumen kapitalmarktfreundlicher Bilanzgestaltung.

Weiters beeinflusst der Aufsichtsrat durch sein Diskussions- und Stimmverhalten die Kommunikationspolitik zu Fragen der gesamtgesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Verantwortung mit. Es sollte aus seiner Handlungsweise deutlich erkennbar sein, dass es gegenüber dem Management keine Doppelbotschaften oder gar versteckte Kumpanei bezüglich rechtlicher Grenzgänge gibt. Darüber hinaus sollte in gut eingespielten Gremien Einigkeit darüber herrschen, woran, außer an Zahlen, Unternehmenserfolg „sonst noch“ gemessen wird.

In keinem dieser Themenfelder geht es um operative Einmischung des Aufsichtsrates in die Agenden des Managements. Einfluss entsteht hier lediglich aus dem Umgang  mit auftretenden oder aktiv in die Sitzung eingebrachten Themenstellungen, zu denen sich der Aufsichtsrat mit bestimmten Werthaltungen positioniert. Der Umgang mit solchen Fragen prägt letztlich die grundlegende Unternehmenskultur. Diese entscheidet darüber, ob es in einem Unternehmen gelingt, über die regelmäßige Erfüllung jährlicher Planvorgaben hinaus nicht nur Kunden und Marktpartner sondern auch die Mitarbeiter/innen zu überzeugen.

Die Kommunikationskultur eines gut geführten, qualitätsvollen Aufsichtsrates prägt insoferne auch den Kommunikationsstil der Führungskräfte mit ihren Mitarbeiter/innen. Wenn im Aufsichtsrat informations- und konfliktfreudig diskutiert wird, entlastet dies das Management und stärkt ihm den Rücken für die Entwicklung eines leistungsfreudigen, wertschätzenden, kooperativen Arbeitsstils.

Wesentliches Merkmal einer offenen Unternehmenskultur ist auch ein gelingendes Zusammenwirken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf möglichst allen Ebenen der Unternehmenshierarchie. Die Frage, ob es gelingt, die Begabungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern richtig einzusetzen und die Herausbildung „gläserner Decken“ zu verhindern, an denen Weiterentwicklung von Mitarbeiterinnen scheitert, wirkt tief in die Gesellschaft zurück. Die diesbezügliche Prägung eines Unternehmens wird von der Zusammensetzung des Aufsichtsgremiums unmittelbar mitbestimmt. Die Einführung von Mindestquoten weiblicher Mitwirkender in Aufsichtsräten kann deshalb ein wichtiger Anstoß für eine Verbesserung der Unternehmenskultur sein.

Unternehmen verdanken ihren Erfolg meist einem inneren, sinnstiftenden Zusammenhalt. Nur mit der richtigen inneren Verfasstheit können sie im Rahmen der gelebten Unternehmensverfassung erfolgreich sein. Das Bemühen um Wahrhaftigkeit und ehrliches Ringen um sachgerechte Lösungen sind erfolgversprechender als bloße Regel-Konformität. Dies schlägt sich letztlich auch in entsprechenden Markterfolgen und gesteigerter Attraktivität des Unternehmens für Mitarbeiter/innen und Marktpartner nieder. Darin, und nicht in der bloß formalen Erfüllung regulativer Anforderungen, liegt der eigentliche Wert gelungener Corporate Governance.

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