Europa braucht Neue Fiskalregeln

Es führt kein Weg an neuen Fiskalregeln vorbei

 

Gastkommentar für Die Presse, 02.06.2023

Eine Geldunion, die nicht zugleich Fiskalunion ist: damit dieses währungspolitisch einzigartige Großexperiment gelingen kann, wurden zur Geburtsstunde des Euro zu Anfang der Neunzigerjahre im Vertrag von Maastricht verbindliche Schuldenregeln beschlossen. Die beiden wichtigsten – eine jährliche Netto-Neuverschuldung von zuhöchst drei Prozent und eine Staatsschuldenquote von nicht mehr als sechzig Prozent – gelten seither als unverrückbar. Ihre Herleitung erfolgte damals erstaunlich pragmatisch: bei einem durchschnittlichen Wachstum von drei Prozent und Anleihekosten von etwa fünf Prozent sollte ein Staatshaushalt, der die genannten Eckwerte nicht überschreitet, dauerhaft stabil bleiben.

Der auf dem Maastricht-Vertrag basierende Stabilitäts- und Wachstumspakt ist im Lauf der Jahre zu einem unübersichtlichen Konvolut von nahezu dreihundert Seiten ausgewachsen und wurde seit dem Coronajahr 2020 vorläufig – weil faktisch nicht einhaltbar – außer Kraft gesetzt. Ab 2024 soll er in überarbeiteter Form wieder gelten – vorausgesetzt, dass unvorhersehbare Turbulenzen nicht neuerlich eine Aussetzung erzwingen. Wie allfällige Regelkorrekturen aussehen werden, ist noch weitgehend offen.

Dass die immensen budgetären Belastungen aus dicht aufeinander folgenden, von niemandem vorhersehbaren Schuldenschocks nicht mehr nach den alten Regeln beherrschbar sein werden, hat seinen Ursprung in der Finanzkrise 2008. Begleitet vom wachsenden Misstrauen der internationalen Anleihegläubiger in den Zusammenhalt der Eurozone erwuchs daraus in der Folge eine gesamteuropäische Staatsschuldenkrise. Erst das „Whatever it takes“-Versprechen des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi aus dem Sommer 2012 verhinderte damals im Zusammenspiel mit dem von der EU neu eingerichteten permanenten Schutzschirm ESM ein Auseinanderbrechen der Eurozone.

In den Folgejahren schlug die EZB mit massiven Anleihekäufen und einer Politik extrem niedriger Zinsen einen Kurs ein, der neben dem Streben nach Wachstum auch mit dem – aus heutiger Sicht paradox erscheinenden – Ziel begründet wurde, eine Inflation von knapp unter 2 Prozent erreichen zu wollen. Dass mit all den „unkonventionellen“ Maßnahmen vor allem der Euro-Zusammenhalt sichergestellt werden sollte, kam im damaligen offiziellen Wording nicht vor und wird bis heute gerne verdrängt.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie im ersten Quartal 2020 bewirkte den nächsten Schuldenschock. Die EZB startete nach den ersten Anzeichen auseinanderstrebender Anleiherenditen im Euroraum ein großvolumiges Anleihe-Ankaufsprogramm (PEPP), das ein Gesamtvolumen von 1,85 Billionen Euro erreichte. Für dieses Programm wurde die Regel, dass von der EZB nicht mehr als je ein Drittel der Staatsanleihen von Mitgliedsstaaten gehalten werden darf, außer Kraft gesetzt.

Gerade als sich die Folgen der durch die Corona-Pandemie gestörten Lieferketten abzumildern begannen und sich Aussichten auf eine Normalisierung eröffneten, lieferte der Ukrainekrieg einen nächsten Anlass für neuerliche Budgetüberschreitungen in den meisten Eurostaaten. Außerdem löste die drastische Verteuerung der Energie einen bis heute anhaltenden Inflationsschub aus, der sich durch die neue geopolitische Gemengelage weniger rasch rückbildet als zunächst erhofft.

Nach all diesen unvorhersehbaren Entwicklungen liegt aktuell die Durchschnittsverschuldung in Europa bei über 95 Prozent, in einzelnen Staaten wie Italien (150) oder Frankreich (113) weit darüber. Auch Österreich überschreitet mit 84 Prozent die Maastricht-Grenze deutlich. Allein die Budgetbelastungen aus den Corona-Maßnahmen lagen hierzulande mit 46 Mrd. Euro nahezu beim Sechsfachen dessen, was uns die mit 8 Milliarden auch nicht gerade billige Finanzkrise gekostet hat.

An die Chance, von diesem Berg an Verpflichtungen durch ein simples Zurück zu den Maastricht-Regeln wieder herunterzukommen, glaubt nur, wer die Augen vor der Realität verschließt. Gefragt sind deshalb Alternativen zum derzeit politisch sich hochschaukelnden Entweder-Oder um die Aufrechterhaltung oder Aufgabe starrer, vor drei Jahrzehnten entstandener Regeln. Das muss keineswegs bedeuten, das Ziel der Budgetdisziplin aufzugeben, erzwingt aber den Abschied von unhaltbar gewordenen Maßstäben für solides Haushalten.

Die ersten Konzepte der Kommission zielen auf länderspezifische Vereinbarungen mit längeren Zeiträumen für den Schuldenabbau und Berücksichtigung besonderer, zukunftsorientierter Investitionserfordernisse. Auch eine Erhöhung der Schuldenquote steht zumindest informell zur Diskussion.   

Angesichts der engen Verflochtenheit von fiskal- und geldpolitischen Strategien zum nachhaltigen Zusammenhalt des Euros wird allerdings eine Erneuerung der Maastricht-Spielregeln nicht ausreichen, spielt doch die EZB eine unfreiwillige Schlüsselrolle im Staatsschuldenmanagement des Euroraums. Da die bisher implementierten Anleihen-Kaufprogramme kaum mehr wesentlich erweiterbar sein werden, ohne in eine faktische Gemeinschaftsverschuldung zu kippen, wird es hierzu gesonderter Überlegungen bedürfen.

Ein möglicher Lösungsansatz könnte darin liegen, jenen Teil der Staatsverschuldung von Euro-Mitgliedsstaaten, der auf die seit 2008 dicht aufeinanderfolgenden Schulden-Schocks zurückzuführen ist und daher nicht im Zusammenhang mit der unmittelbaren Haushaltsdisziplin steht, seitens der EZB über langfristige, niedrigverzinste Gemeinschaftsanleihen mit langen Laufzeiten zu refinanzieren. Die anteiligen Quoten der krisenbedingten Sonderverschuldung der Eurostaaten würden den im Stabilitätspakt kontrollierten Schuldenquoten in der Folge nicht mehr zugerechnet.

Eine solche Auslagerung von durch externe systemische Schocks entstandenen Sonderschulden in von der Notenbank langfristig refinanzierte Sondertranchen böte die Chance auf einen sachgerechten Ausweg aus dem Streit um ein striktes Festhalten an den ursprünglichen Maastricht-Regeln. Sie weist im übrigen Ähnlichkeiten mit dem von der deutschen Regierung praktizierten Konstrukt eines „Sondervermögens“ auf.

Die unverzichtbare budgetäre Eigenverantwortlichkeit entlang der neu fixierten Grenzwerte könnte darauf aufbauend wieder glaubwürdig gelebt werden. Denn zweifellos ist und bleibt Regelgebundenheit in einer Geldunion, die nicht auch Fiskalunion ist, unabdingbar. Erfüllbar ist sie jedoch nur, wenn ein neuer Fiskalpakt realistische Lösungsansätze beinhaltet. Diese sollten es besser ermöglichen, die durch unvorhersehbare Krisen erzwungene Überschuldung zahlreicher Euro-Mitgliedsstaaten in den Griff zu bekommen, als durch aussichtsloses Klammern an unerreichbaren Formalzielen.

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