analyse eines historischen deals

Machtspiele um Euro-Milliarden

 

Beitrag für DIE FURCHE 30/2020

Im Vorfeld des ersten physischen Gipfeltreffens der EU-Regierungschefs seit Ausbruch der Corona-Pandemie wurde mit Superlativen gepokert: „Wuchtig“ und ehrgeizig sollte das Wiederaufbaupaket sein. Immer dringlicher klangen die an unseren Retterinstinkt appellierenden Zurufe. Wo es um Alles oder Nichts geht, dürfe niemand zu den „Geizigen“ gehören, hieß es auch von Seiten der österreichischen Abgeordneten im EU-Parlament. Dessen Vizepräsident Otmar Karas lehnte sich besonders weit gegen das mit den Niederlanden, Dänemark und Schweden abgestimmte Vorgehen der „Sparsamen Vier“ aus dem Fenster.

Wer allerdings allzu laut an den politischen Mut der anderen appelliert, darf sich nicht wundern, wenn die Gegenseite vor unangemessenem Leichtsinn warnt. Denn vor der Einigung auf das Corona-Hilfspaket sollte doch eigentlich geklärt sein, wofür, unter welchen Bedingungen und mit welchen Kontrollen die neu aufzubringenden Gelder ausgegeben werden. Niemand kann schließlich an einem Paket interessiert sein, an dem sich die EU am Ende politisch überheben würde.

Im Endergebnis blieb es nach viereinhalb Verhandlungstagen bei der von Angela Merkel und Emanuel Macron vorgeschlagenen Gesamthöhe von 750 Milliarden, von denen nun immer noch üppige 390 statt der ursprünglich angepeilten 500 Milliarden als Direktzuschüsse vergeben werden, während der verbleibende Anteil in Form von Darlehen ausgereicht wird. Die erstmalige Aufnahme von Schulden mit anteiliger Haftung aller Mitgliedsstaaten ging ebenfalls durch. Noch zu Beginn des Jahres wäre dieser Bruch mit den bisherigen Spielregeln der EU-Finanzverfassung undenkbar gewesen.

Damals, Mitte Februar, hätte man sich – im Rückblick ist man oft klüger – wohl besser gleich auf das Sieben-Jahres-Budget des EU-Haushalts der Jahre 2021 bis 2027 geeinigt. Denn obwohl der Entfall von annähernd 70 Milliarden in Folge des Brexit die Suche nach Lösungen erschwerte, fehlten zum Kompromiss, verteilt auf den ganzen Zeitraum, zuletzt „nur“ mehr 40 Milliarden – ein im Verhältnis zu den nun am Tisch liegenden Verhandlungsmassen sehr überschaubarer Betrag. So aber kam man nicht darum herum, gleich über die ganzen 1,8 Billionen zu reden, die sich aus der Addition dieses regulären Haushalts mit dem neu hinzukommenden Corona-Hilfspaket ergeben.

Es ist notwendig, näher hinzuschauen
Wie wichtig es ist, näher hinzuschauen, was für wen und wofür ausgegeben wird, zeigt die mittlerweile verdrängte Erste-Hilfe-Panne vom 13. März, jenem Tag, an dem die WHO Europa zum Zentrum der Pandemie erklärte. Damals trat die alarmierte EU-Kommission zusammen und strickte mit heißer Nadel ein übereiltes Sonderprogramm (Coronavirus Response Investment Initiative / CRII) in Höhe von 37 Milliarden Euro. Das so überraschende wie offensichtlich kontra-indizierte Ergebnis der Schnellverteilung: Italien, das im März am schwersten von den COVID19-Folgen betroffene Mitgliedsland erhielt daraus 6,8 Milliarden zugemessen, was ganzen 0,35 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts entspricht. Das von Corona kaum betroffene Ungarn hingegen wurde gleich mit 5,6 Milliarden oder 4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung beteilt. Die wenig einsichtige Erklärung für diese überhastete Entscheidung: man habe ja nur bisher unverbrauchte Mittel aus dem Kohäsionsfonds umgewidmet, deren üblicher Aufteilungsschlüssel nun einmal in keinem wie immer gearteten Zusammenhang mit der aktuellen Krise steht.

Das gesammelte Schweigen zu diesem offenkundigen Fehlgriff füllt mittlerweile Bände. Was nichts an der Tatsache ändert, dass offensichtlich Achtsamkeit geboten ist, wenn bei gesteigertem Handlungsdruck die Gefahr überhasteter Weichenstellungen wächst. Mitgliedsländer, die bei der Festlegung von Zielen, Instrumenten, Verteilungsschlüsseln und Kontrollmöglichkeiten der aufzubringenden Sondermittel auf Genauigkeit bestehen, sollten vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht zu lästigen Bedenkenträgern abgestempelt werden.

Jetzt muss man sich die Zeit nehmen
Nach der am frühen Morgen des 21. Juli erzielten Einigung auf die Zahlenkulisse wird es nun darum gehen, intensiv an der Präzisierung der detaillierten Förderprogramme zu arbeiten. Von der dafür aufgewendeten Sorgfalt hängt es letztlich ab, ob die umstrittenen „verlorenen Zuschüsse“ widmungsgerecht verwendet werden oder ungezielt in den Budgetlöchern hoch verschuldeter Mitgliedsstaaten versickern. Die Zeit dafür muss man sich nehmen – zumal der Zeitdruck weniger groß ist, als aus nachvollziehbarer Verhandlungstaktik in diesen Tagen behauptet wurde.

Es gibt nämlich keinen zwingenden finanztechnischen Grund, das Hilfspaket über den Daumen zu brechen, seit die Europäischen Zentralbank schon Anfang März die Entscheidung getroffen hat, bis auf weiteres praktisch unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen. Damit können sich auch höher verschuldete Mitgliedsstaaten jederzeit zu Niedrigzinsen mit den unmittelbar notwendigen Geldmitteln versorgen und ihre Verschuldungsgrenzen weiter dehnen. Zu dieser – je nach Interpretation – Lockerung oder sogar Umgehung der bisherigen geldpolitischen Spielregeln der EZB gab es in der Tat keine Alternative. Man hat damit Zeit gekauft, die nun genützt werden sollte, um Grundsätzliches zu klären, bevor es zu Auszahlungen aus dem Hilfspaket kommt.

Wie immer der letztgültige Maßnahmen-Mix hinter den vorläufig fixierten Überschriften aussehen mag: schon jetzt steht fest, dass das Corona-Hilfspaket eine weitere Etappe in Richtung Fiskalunion und gemeinschaftlicher Budgets markiert. Überall dort, wo die Mittel in Infrastruktur-, Digitalisierungs- und Öko-Projekte investiert werden, erfüllen sie nämlich faktisch die Funktion eines deutlich aufgestockten EU-Haushalts.

Eine Verfassungsänderung steht an
Schon deshalb muss dem nun erzielten Kompromiss zwingend eine zügige Grundsatzeinigung über die künftige Aufbringung EU-eigener Mittel folgen. Die bereits akkordierte Plastiksteuer mit einem optimistisch geschätzten Jahresaufkommen von rund 6 Milliarden kann da nur ein erster Schritt sein. Denn nur wenn bei der im Schlussdokument erwähnten Digitalsteuer, der CO2-Abgabe und einer umfassenden Finanztransaktionssteuer schon in Bälde Nägel mit Köpfen gemacht werden, bleiben die Mitgliedsstaaten vom Zwang zu innerstaatlichen Steuererhöhungen verschont

Auch die Frage der innereuropäischen Steueroasen kann nicht auf ewige Zeit offen bleiben. Die schmerzliche Niederlage der EU-Kommission im Steuerrechtsstreit gegen Google und Irland zeigt, wie schwierig dieses Terrain ist. Das geltende Einstimmigkeitsprinzip ermöglicht derzeit auch Ländern wie Luxemburg, Malta, Holland und Zypern, jede substantielle Annäherung an steuerliche Mindestniveaus für ganz Europa zu verhindern.

Mit der Pandemie kommt es einerseits zu einer Fragmentierung in nationale und regionale Schicksalsgemeinschaften mit gesundheits- und wirtschaftspolitisch höchst unterschiedlichen Antworten. Andererseits wird uns unsanft verdeutlicht, wie sehr in unserer vom gemeinsamen Binnenmarkt eingefassten Schicksalsgemeinschaft alles mit allem zusammen- und voneinander abhängt. Die Marathon-Verhandlung von Brüssel war ein Spiegelbild dieser Zerrissenheit in längst unauflöslicher Verbundenheit. Alle sind Gewinner und Verlierer zugleich.

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