Geldpolitik und Bankenregulierung vor neuen Herausforderungen

Kontrolle ist gut - Vertrauen ist besser!

 

Beitrag im CFO aktuell, Jänner 2021

Notenbanken, Politik und Banken-Regulierung im Dienst der Finanzmarktstabilität

Die Corona-Pandemie führte in ganz Europa zu einem massiven Einbruch der Konjunktur und stark steigender Arbeitslosigkeit. Während anfängliche Hoffnungen auf eine rasche Erholung der Realwirtschaft enttäuscht wurden, schlossen die Börsen nach einem massiven Einbruch im zweiten Quartal das Krisenjahr sogar mit historischen Höchstständen. Zu dieser überraschenden Robustheit der Kapitalmärkte trugen die umfassenden staatlichen Über- brückungshilfen in praktisch allen hoch entwickelten Marktwirtschaften maßgeblich bei. Mindestens gleichbedeutend war jedoch ein trotz Krise gefestigtes Vertrauen in Finanzmarktstabilität. Ob dieses für die weitere Entwicklung so wichtige Vertrauen erhalten bleibt, entscheidet sich auf drei eng miteinander verknüpften Aktionsfeldern: der Politik der Notenbanken, dem Bemühen um den Zusammenhalt des Euro und dem Kampf um Resilienz des Bankensystems. Dieser Beitrag unternimmt daher zunächst eine Gesamtschau der Strategien und Instrumente, die von der Europäischen Zentralbank und den europäischen Institutionen gegen die Finanzkrise, die ihr nachfolgende Staatsschuldenkrise und die aktuelle Corona-Krise eingesetzt wurden. Darauf folgt eine kritische Zwischenbilanz zum Stand der Bankenregulierung als dritter Säule der Finanzmarktstabilität. Überlegungen zu deren grundlegender Vereinfachung und einer damit verbundenen Komplexitätsreduktion sollen schließlich deutlich machen, dass gerade in diesem Bereich weniger Kontrolle zu erhöhtem Vertrauen beitragen kann.

1.  „Whatever it takes“: Unkonventionelle Instrumente der Krisenbekämpfung

Beim Ausbruch von Krisen, die ganze Sozial- und Wirtschaftssysteme gefährden, sind rasche, lebensrettende Eingriffe gefragt. Was aber tun, wenn das Krankheitsbild neu ist und Vorerfahrungen fehlen? Dann kann – das hat die Finanzkrise 2008 schmerzlich gezeigt – die Lernkurve lange und teuer werden.

Zwar leisteten die Notenbanken im Unterschied zur Finanzkrise der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts sofortige und wirksame Erste Hilfe, indem sie rasch für Liquidität sorgten und die Zinsen senkten. Ohne diese entschlossene, koordinierte Intervention der maßgeblichen Zentralbanken wäre es aufgrund des nach der Lehman-Pleite abrupt verloren gegangenen Zwischenbanken-Vertrauens zu einem globalen Zusammenbruch der Finanzmärkte gekommen. Ergänzend dazusorgten die Einlagengarantien der Regierungen dafür, dass es zu keinem Bank-Run der um ihr Erspartes bangenden Bankkunden kam. Auf diese Weise konnte eine zweite Weltwirtschaftskrise erfolgreich verhindert werden.

Als aber dann die Staatsschulden in Folge des vorübergehenden Konjunktureinbruchs, höherer Sozialkosten und Aufwendungen für Bankenrettungspakete quer durch Europa massiv anstiegen und die immer weiter auseinanderklaffenden Anleihekosten der Schuldnerstaaten nach Ausbruch der Griechenlandkrise den Zusammenhalt der Eurozone zu gefährden drohten, dauerte es quälend lange, bis man sich endlich zur Jahresmitte 2012 für einen koordinierten Einsatz tauglicher Instrumente entschied, mit denen internationalen Gläubigern Klarheit darüber gegeben wurde, dass Mitglieder der Eurozone und deren Banken nicht im Stich gelassen werden.

Offensichtlich hatte man bis dahin die Ansteckungsgefahren zwischen Euro-Staaten unterschätzt, in denen sich zugleich auch die Firmensitze gefährdeter Großbanken befanden, deren Bilanzsummen nicht selten höher waren als das jeweilige Bruttosozialprodukt. Europa ist in dieser Hinsicht in Krisen währungspolitisch aus dem ein- fachen Grund höchst exponiert, dass die Gemeinschaftswährung zwar geldpolitisch zentral gesteuert wird, die Verantwortung für die Staatshaushalte der Mitgliedsstaaten jedoch national verankert bleibt. Ein vergleichbares Problem kann sich in den USA nicht stellen, da diese im Unterschied zu Europa eine Fiskalunion bilden.

Die EZB festigte in der Folge durch ihre Anleihekäufe und ein ganzes Arsenal an weiteren „un- konventionellen“ Instrumenten das Gläubigervertrauen in Euro-Anleihen selbst hoch verschuldeter Eurostaaten. Komplementär dazu etablierte die Europäische Union anstelle der bis dahin eingesetzten provisorischen Rettungsinstrumente den permanenten Schutzschirm ESM. Dieser dient seither vorübergehend in budgetäre Schieflagen geratenen Mitgliedsstaaten als Überbrückungshilfe.

Der zeitlich verzögerte Einsatz all dieser Maß- nahmen erwies sich als äußerst kostspielig. Noch heute sind etwa die Budgets höher verschuldeter Euro-Mitgliedsstaaten mit den überhöhten Zinskosten von damals belastet.

2.  Soforthilfe-Programme in der Corona-Krise

Nach Ausbruch der Corona-Krise leistete man sich keine derartigen Verzögerungen mehr. Diesmal war man sich der Risiken einer latenten Ansteckungsgefahr der durch Zwischenbanken-Schuldbeziehungen und Staatsanleihen anderer Mitgliedsländer verflochtenen Euro-Staaten bewusst. Daher fanden die im Zusammenspiel von Europäischer Zentralbank (EZB) und den EU-Instituten mittlerweile erprobten geldpolitischen und fiskalischen Medikationen sofortige Anwendung. Nachdem es bereits innerhalb weniger Tage nach Bekanntwerden der Epidemie zu einem ersten Auseinanderdriften der Anleiherenditen höher verschuldeter Staaten wie Griechenland oder Italien im Vergleich zur Benchmark deutscher Bundesanleihen gekommen war, fiel ohne Zögern innerhalb kürzester Zeit die Entscheidung für ein umfassendes Anleihe- Ankaufsprogramm.

Dieses erste, mit 750 Mrd € bewusst großzügig dimensionierte „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP) wurde von den Finanzmärkten als eine unübersehbare Bekräftigung des Euro- Zusammenhalts wahrgenommen und hatte um- gehend den erwünschten Effekt eines Rückgangs der Anleiherenditen der betroffenen Staaten auf das ursprüngliche Niveau. Mitentscheidend dafür war der Beschluss, in Abweichung von den bis da- hin geltenden Bestimmungen Anleihen von Euro-Mitgliedsländern auch dann anzukaufen, wenn sie mehr als ein Drittel von deren jeweiligen Staats- schulden ausmachen. Ohne diese Regel-Weiterung hätte es dem Anleihekaufprogramm an Glaubwürdigkeit gefehlt.

Zusätzlich wurde der ESM ermächtigt, ohne weitere Auflagen Darlehen in einer Höhe von bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts von durch Corona betroffenen Mitgliedsstaaten in einem Gesamtrahmen von 240 Mrd € für Investitionen ins Gesundheitssystem auszureichen.

Allerdings kam es unter dem in dieser ersten Phase der Pandemie herrschenden Handlungsdruck auch zu einer gravierenden, von der Medienöffentlichkeit wenig beachteten Erste-Hilfe-Panne an genau jenem 13. März, an dem die WHO Europa zum Zentrum der Pandemie erklärte. Damals trat die alarmierte EU-Kommission zusammen und strickte mit heißer Nadel ein Sonderprogramm (Coronavirus Response Investment Initiative / CRII) in Höhe von 37 Mrd €. Das so überraschende wie offensichtlich kontraindizierte Ergebnis der Schnellverteilung: Italien, das im März am schwersten von den COVID-19-Folgen betroffene Mitgliedsland, erhielt daraus als Soforthilfe 6,8 Mrd € zugemessen, was etwa 0,35 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts entspricht. Das von Corona kaum betroffene Ungarn hingegen wurde gleich mit 5,6 Mrd € oder vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung beteilt. Die wenig einsichtige Erklärung der EU-Kommission für diese überhastete Entscheidung: man habe, um rasch zu agieren, bloß bisher unverbrauchte Mittel aus dem Kohäsionsfonds umgewidmet, deren üblicher Aufteilungsschlüssel nun einmal in keinem wie immer gearteten Zusammenhang mit der aktuellen Krise steht.

3.  Ringen um das Corona-Hilfspaket der EU

Es steht außer Zweifel, dass die Anleihe-Ankaufsprogramme der EZB aus der Sicht der Gläubiger von Eurostaaten ungleich wichtiger waren als alle bisher genannten budgetären Sonder-Dotationen. Ohne die Maßnahmen der Notenbank könnte auch das umstrittene, im Juli 2020 in einer Grundsatzeinigung fixierte Corona-Hilfspaket („Next Generati- on EU“) – trotz seiner außergewöhnlichen Dimension von ebenfalls 750 Mrd € – keine ausreichende Wirkung entfalten.

Nachdem England als großer Nettozahler und traditionell in EU-Budgetfragen kritischer Partner Brexit-bedingt bei den einschlägigen Verhandlungen nicht mehr mit am Verhandlungstisch saß, fand sich eine Gruppe von kleineren Nettozahler- Mitgliedsstaaten, die gemeinsam eine kritische Gegenposition zur Vorwegeinigung von Frankreich und Deutschland vertraten. Zu dieser Gruppe gehörte neben den Niederlanden, Dänemark und Schweden auch Österreich. Etwas später gesellte sich Finnland als fünfter Teilnehmer dazu. Die „sparsamen Vier“ legten bei der Festlegung von Zielen, Instrumenten, Verteilungsschlüsseln und Kontrollmöglichkeiten der aufzubringenden Sondermittel erhöhten Wert auf Genauigkeit. Vor allem aber drängten sie darauf, jenen Teil des Hilfspaketes, der als nicht rückzuzahlender Zuschuss vorgesehen war, deutlich zu verkleinern.

Im Endergebnis blieb es nach zähen Verhandlungen bei der von Kanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emanuel Macron von Beginn an vorgeschlagenen Gesamthöhe von 750 Mrd €,  von denen immer noch beachtliche 390 statt der ursprünglich angepeilten 500 Mrd € als Direktzuschüsse vergeben werden sollen, während der verbleibende Anteil in Form von Darlehen ausgereicht wird.

Auf Grund der Auseinandersetzungen um die von Ungarn und Polen bis zuletzt beeinspruchte Rechtsstaats-Klausel kam es erst kurz vor Jahresende 2020 zur endgültigen Einigung auf das gemeinsam mit dem neuen 7-Jahres-Regelhaushalt der EU verhandelte Gesamtpaket. Für eine rational nachvollziehbare, in plausiblem Zusammenhang mit den Folgekosten der Corona-Pandemie stehende Aufteilungsregel – vor allem der verlorenen Zuschüsse – blieb dennoch nur wenig Zeit. Es ist deshalb zu hoffen, dass die bevorstehenden innerstaatlichen Verteilungskonflikte um die Verwendung der erstrittenen Hilfsmittel zu einigermaßen sachgerechten Ergebnissen führen und deren Einsatz prioritär für Projekte erfolgt, die dem Widmungszweck der gemeinsamen europäischen Hilfsbemühungen entsprechen.

4.  Vom „No-bail-out“ zur provisorischen Fiskalunion

Die für die Finanzierung des Corona-Hilfspakets der EU erforderliche, erstmalige Aufnahme namhafter gemeinsamer Mittel für den gemeinsamen EU-Haushalt wird von einigen ihrer Befürworter als einmalige, der Krise geschuldete Abweichung von der bisherigen Praxis eingestuft. Andere sehen darin einen ersten Durchbruch auf dem Weg zu einer künftigen Fiskalunion. Der den Euro begründende Vertrag von Maastricht, in dem die fiskalische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten und ein „No-bail-out“-Gebot fixiert wurde, wäre damit ebenso außer Kraft gesetzt wie das darin festge- haltene Regelwerk zur Einhaltung von Verschuldungsgrenzen.

Wie es um die politische Akzeptanz der damit verbundenen faktischen Änderung der EU- Verfassung am Ende bestellt sein wird, dürfte vor allem auch davon abhängen, ob es – wie derzeit beabsichtigt – gelingen kann, die Rückzahlung der nun aufzunehmenden Sondermittel aus neu zu schaffenden, gesamteuropäischen Steuerquellen zu bewerkstelligen.

Neben einer geplanten und bereits vorakkordierten Plastiksteuer geht es dabei um CO2-Abgaben und eine Digitalsteuer, die beide konzeptionell noch in den ersten Anfängen stecken. Zur künftig ergiebigsten Quelle soll mit mehr als der Hälfte der aufzubringenden Mittel ausgerechnet jene Finanztransaktionssteuer werden, deren schon vor mehr als einem Jahrzehnt ins Auge gefasste Einführung nach jahrelangen Diskussionen und massivem Widerstand der dagegen arbeitenden Lobbys zuletzt im Sande verlaufen war.

Sollte die Einigung auf zusätzliche Steuerquellen nicht gelingen, bliebe es in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten, aus ihren Budgets für die zusätzlichen Verpflichtungen aufzukommen – kein einfaches Unterfangen, angesichts der in Folge der Corona-Pandemie ohnehin massiv ansteigenden Staatsschulden.

Seriöse Aussagen darüber, wie die höheren Schuldenstände mittel- bis langfristig normalisiert werden können, werden wohl erst zu treffen sein, wenn das endgültige Ende der Pandemie absehbar ist. Nicht zu früh ist es hingegen für eine Diskussion über künftige, der vorherrschenden Zins- und Inflationslage angepasste Maßstäbe für budgetäre Verschuldungsgrenzen im Rahmen eines adaptierten Wachstums- und Stabilitätspakts.

Der bisher als Obergrenze geltende, sechzig-prozentige Anteil der Staatsschuld am jeweiligen Bruttosozialprodukt liegt für die Mehrheit der Euro-Länder auf absehbare Zeit außer Reichweite. Diese Messlatte unverändert weiter zu verwenden, hieße daher wohl, sich auf das Risiko einer quälen- den Austeritätspolitik mit all ihren sozialen und politischen Folgen einzulassen. Da kommt es gelegen, dass die Niedrigzinspolitik der Notenbanken gangbare Wege zu einer Neufestsetzung der Obergrenze öffnet.

5.  Wirkungen und unerwünschte Nebenwirkungen der Nullzins-Politik

Die Variation des Leitzinses gilt als zentrales Instrument einer Notenbank. Umso ungewöhnlicher ist die Tatsache, dass dieser in der Eurozone nun schon seit März 2016 unverändert bei Null Prozent liegt. Kein anderes Signal könnte deutlicher zeigen, dass sich die EZB – ohne sich darin grundlegend von anderen maßgeblichen Notenbanken zu unterscheiden – seit der Finanzkrise im permanenten Krisenmodus befindet. Als Mario Draghi Ende Oktober 2019 seine Funktion an Präsidentin Christine Lagarde übergab, blickte er auf eine achtjährige Amtszeit ohne eine einzige Erhöhung der Leitzinsen zurück. Seine Nachfolgerin setzt diesen Weg vorläufig unverändert fort. Unkonventionelle Notenbankpolitik ist längst zur neuen Normalität geworden.

Immer offenkundiger wird zudem, dass das ausgeschilderte Ziel, mit Anleihekäufen sowie Niedrigzinsen einerseits die Konjunktur zu stützen und andererseits eine Inflation von knapp unter zwei Prozent über den gesamten Euroraum erzielen zu wollen, wohl nur einen Teil der Wahrheit abbildet. Deflationäre Tendenzen können schließlich bei bestimmten Gütern und Dienstleistungen die durchaus plausible Folge einer verstärkten globalen Arbeitsteilung sein. Auch gilt als unvermeidlich, dass einzelne Euro-Mitgliedsstaaten ihre Wettbewerbsfähigkeit – in Ermangelung der Option einer Abwertung – nur durch vorübergehende Kosten-Deflation stärken können. Von daher ist die Eignung eines Inflations-Durchschnittswertes aller 18 Euro-Mitgliedsstaaten als Feinsteuerungsgröße für den richtigen Einsatz geldpolitischer Instrumente in Frage zu stellen.

Plausibler und realitätsnäher erscheint dagegen die durchaus nicht unehrenhafte Arbeitsannahme, dass die hohen Anleihekäufe in erster Linie dem Zusammenhalt des Euro dienen und die damit einhergehende Nullzinspolitik längst unverzichtbar geworden ist, um die Kosten der steigenden Staatsschulden der Mitgliedsstaaten in beherrschbaren Größenordnungen zu halten. Wenn jedoch die offenkundig sachnotwendige Verfolgung dieser Ziele geltenden Spielregeln widerspricht, sollte das offensiv und konstruktiv diskutierbar sein.

Eine solche Diskussion müsste die erwünschten und unerwünschten Nebenwirkungen der Niedrigzinsen auf das Investitions- und Sparverhalten ebenso mit einschließen wie die verteilungspolitischen Folgen inflationärer Steigerungen von Immobilienpreisen und der Aufblähung von Aktienblasen. Die dauerhafte Verdrängung der eigentlichen, währungspolitischen Zweckrationalität der aktuellen Notenbankpolitik führt hingegen zu – vermeidbaren – Vertrauensschäden.

6.  Wege zu erhöhter Stabilität des Banken- und Finanzsystems

Das 2004 in Kraft getretene Banken-Regulativ von „Basel II“ sollte nach der Intention seiner Erfinder bereits der Schlussstein einer auf Systemstabilität zielenden Regulierung gewesen sein. Dies erwies sich jedoch mit Ausbruch der Finanzkrise 2008 schon wenige Jahre später als Illusion. In der Folge kam es daher zu einer neuerlichen, äußerst umfassenden Regelreform für das Bankensystem, die unter dem Sammelbegriff „Basel III“ zuletzt derart ausufernde Umfänge angenommen hat, dass die Bezeichnung „Turmbau zu Basel“ nicht übertrieben erscheint.

Auf der Habenseite des von den europäischen Institutionen durch eigene Gesetzesinitiativen begleiteten Reformwerks steht neben der erfolgreichen Einrichtung einer gesamteuropäischen Bankenaufsicht auch eine erhöhte Transparenz der bis zur Krise unkontrolliert wuchernden Schattenbanken. Weit überschätzt werden hingegen die Fortschritte dort, wo es um die nachhaltige Stabilität des Systems geht. Vor allem in der zentralen Frage der ausreichenden Eigenkapitalausstattung von systemrelevanten Großbanken wiegt das geltende Regulativ Politik und Öffentlichkeit permanent in falscher Sicherheit.

Kennzeichnend dafür ist, dass die Europäische Bankenaufsicht kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie ihren für das erste Halbjahr 2020 geplanten „Stresstest“, mit dem die Krisenfestigkeit der Großbanken gemessen werden sollte, abgebrochen und auf 2021 verschoben hat. Das Ziel des Kontrollmanövers hätte darin bestanden, die Auswir- kungen eines Wachstumseinbruchs von insgesamt 4,2 Prozent bis 2022 auf das Bankensystem auszutesten und daraus Schlüsse über dessen Krisenfestigkeit zu ziehen. Da jedoch der Folgeschaden aus dem Corona-bedingten Nachfrageeinbruch schon in einem einzigen Jahr weitaus höher liegt als in der synthetischen Drohkulisse des Stresstests während eines Drei-Jahres-Zeitraums, wäre eine Fortsetzung der aufwendigen Schreibtischübung wohl sinnlos gewesen. Die Vermutung liegt nahe, dass der für 2021 vorgesehene Test ein weiteres Mal verschoben werden muss.

In der Illusion, Unvorhersehbares mit Hilfe von fein ziselierten Simulationsmodellen vorweg- nehmen zu können, schießt das überambitionierte Regelwerk vielfach übers Ziel. In seiner Überkomplexität führt es in Verbindung mit Fehlanreizen zu wirklichkeitsfremder Konformität und abnehmen- der Entscheidungsfreiheit im Handeln der Bank- verantwortlichen: ein hoher Preis angesichts der ernüchternden Tatsache, dass sich mit all diesem – noch dazu kostspieligen – Aufwand keine nach- haltige Systemstabilität sicherstellen lässt.

7.  Die unterschätzte Prozyklizität des Regelwerks

Ein durchaus gewichtiger Erklärungsgrund für grundlegende Konstruktionsfehler in der Finanzmarktarchitektur liegt in dem vernachlässigten Unterschied zwischen der kontinentaleuropäischen und der angloamerikanischen Finanzierungskultur. So verfolgte Europa, sobald die Entscheidung für eine Gemeinschaftswährung gefallen war, das Ziel einer möglichst umgehenden Angleichung  an das anglo-amerikanische Finanzmarktmodell, ohne auf nachteilige Folgen für die traditionell bankenorientierte Finanzierungskultur Kontinentaleuropas zu achten.

Dies führte bei allen börsennotierten Unternehmen zum eilfertigen Abschied von den bis heute aus guten Gründen für die Mehrzahl der Unternehmen geltenden, am Gläubigerschutz und am Vorsichtsprinzip orientierten traditionellen Bilanzierungsregeln. Ab 2004 waren demnach auch für börsennotierte Banken kapitalmarktorientierte, die jeweiligen Augenblicksbewertungen der Märkte abbildende Bilanzierungsregeln verpflichtend. Die daraus abgeleiteten Bilanzen täuschten insbesondere bei Großbanken im Aufschwung hohe Asset-Werte vor, die dann im Abschwung umso schneller wegschmolzen.

Ähnliche Auswirkungen zeitigte die „Basel II“-konforme Bemessung des erforderlichen Mindest-Eigenkapitals von Banken an der jeweiligen Rating-Einstufung der Ausleihungen. Die daraus abgeleitete „Risikogewichtung“ der Assets bei der Berechnung der regulatorisch geforderten Quoten führte ebenfalls zu wirklichkeitsfremden Verzerrungen des Bilanzbildes – zunächst nach oben und in der Krise nach unten. Sie trug vor allem dazu bei, dass sich der Fremdmittelhebel vor der Krise gerade bei europäischen Banken bis zum Fünfzigfachen des bilanziellen Eigenkapitals steigern konnte. Die Aufsichtsbehörden zeigten sich davon so lange nicht beunruhigt, als ihrem risikogewichteten Maßstab entsprochen wurde.

Die doppelte, prozyklische Dynamik von kapitalmarktorientierter Bilanzierung und risikogewichteter Eigenmittel-Bemessung setzt sich bis heute fort. Trotz deutlich verschärfter Kapitalvorschriften reicht die ungewichtete Eigenkapitalausstattung gerade jener systemrelevanten Großbanken, die ihre „too big to fail“ – Position eigentlich einbüßen sollten, bis heute nicht aus, um vor verschärfter Instabilität in Krisen wirksam zu schützen. Diese Schwäche wird durch die zahlreichen kleinteiligen, nicht selten an den falschen Kontrollpunkten des Systems ansetzenden Vorschriften des geltenden „Basel III“-Regelwerks nur unwesentlich abgemildert. Auch die makro-prudentiellen Bemühungen hinsichtlich der passgenauen Vorschreibung zusätzlicher Eigenmittel-Puffer für systemrelevante Großbanken in sich ständig verändernden Finanzmarktumgebungen bieten dafür keinen befriedigenden Ausgleich.

Vor diesem Hintergrund ist es nur schwer nachvollziehbar, dass als Messgröße des ausreichenden Eigenkapital-Polsters nach wie vor beinahe ausschließlich das risikogewichtete, regulatorische Eigenkapital herangezogen wird. Gegenüber Gläubigern von Banken und deren Sparkunden grenzt die einseitige Orientierung an diesem in der Krise höchst anfälligen Maßstab für die Solidität von Finanzinstituten geradezu an Irreführung.

Man beruhigt indessen sich selbst und die Öffentlichkeit mit den nachweislich gestiegenen, risikogewichteten Quoten der vergangenen Jahre, die jedoch vor allem jene Banken besser dastehen lassen, die interne Rating-Systeme einsetzen. Kleinere und mittlere Institute, die ihr Geschäftsmodell auf klassische Bankaufgaben fokussieren, arbeiten hingegen in der Regel mit deutlich geringeren Fremdmittelhebeln und verfügen über entsprechend höheres bilanzielles Eigenkapital. Dies verschafft ihnen jedoch bis dato keine nennenswerten Erleichterungen hinsichtlich der Erfüllung all der umfassenden Kontroll- und Dokumentationspflichten.

8.  Finanzökonomische Folgen der Corona- Pandemie

Die bilanziellen Auswirkungen des Corona-Schocks auf die Bankbilanzen führen nun mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine nächste, ernsthafte – wenn auch ganz anders als 2008 zustande kommende – Bankenkrise. Die durch ansteigende Insolvenzen und entsprechend erhöhte Kreditausfälle verursachten Verluste werden das knappe Banken-Eigen- kapital schmälern. Dies wiederum zieht zwangläufig eine das Wachstum dämpfende Zurückhaltung bei der Neuvergabe von Krediten nach sich.

Folgt man den Aussagen der zuständigen Aufsichtsbehörden, stünde für die effiziente Abwicklung von Banken ein eigens dafür geschaffener Abwicklungsmechanismus bereit. Dieser zielt darauf ab, im Fall der Gefährdung einer Großbank die Kosten von deren Restrukturierung nicht neuerlich auf Staaten und Steuerzahler zu überwälzen. Für das Abwicklungsmanagement wurde eine eigenständige Behörde geschaffen. Vorgesehen ist zum einen, dass die Gläubiger von sanierungswürdigen Banken durch ein anteiliges „Bail-in“ ihrer Forderungen in die Sanierung mit einbezogen werden. Ergänzend dazu besteht ein einheitlicher Abwicklungsfonds, dessen Mittel von alle Banken beizusteuern sind. Er dient im Anwendungsfall als ergänzendes Hilfsinstrument und soll im Endausbau mit ca 60 Mrd € ausgestattet sein, was etwa einem Prozent der Einlagen im Euro-Währungsgebiet entspricht.

Beide Ansatzpunkte weisen jedoch Schwächen auf. So steht die Einbeziehung der Gläubiger in die Restrukturierung im Ernstfall dadurch in Frage, dass diese wohl frühzeitig versuchen würden, ihre Forderungen abzuziehen. Die Gefahr eines solchen „bank-run“ wäre umso höher, je mehr Banken im systemischen Krisenfall vor einem Sanierungserfordernis stünden.

Für den Abwicklungsfonds wiederum gilt, dass er für wirklich große Einsatzfälle ungenügend ausgestattet ist. In kluger Voraussicht wurde deshalb schon zu Beginn 2019 vorgesehen, den permanenten Stabilisierungsmechanismus ESM als „Back- stop“ für den Fall einzusetzen, dass es ergänzender Sanierungsmittel bedarf. Nachdem eine Einigung über diese Rückenstärkung über lange Zeit durch den Widerstand Italiens blockiert schien, führte nun bezeichnenderweise die Corona-Krise dazu, dass man jüngst doch zu einer Einigung fand. Der ESM soll nun sogar schon 2022 – und nicht erst, wie ursprünglich vorgesehen, 2024 – als Helfer in der Not bereitstehen. Es ist zu hoffen, dass der auf ein Jahr angesetzte Prozess der Ratifizierung dieser ESM-Reform nicht schon zu spät kommt.

Beim derzeitigen Stand der Regulierung liegt die Erfüllung der Regulierungsabsicht, Staaten und damit Steuerbürger nicht mehr mit den Kosten von Bankensanierungen zu belasten, jedenfalls  noch in weiter Ferne. Für ein diesbezügliches Gegensteuern ist die aktuelle Krisensituation nicht der geeignete Zeitpunkt. Es wird daher ein weiteres Mal großflächiger Banken-Hilfspakete bedürfen, um unerwünschte gesamtwirtschaftliche Folgen so gering wie möglich zu halten.

9.  Neue Spielregeln für ein resilientes Finanzsystem

Immer deutlicher wird, dass sich Finanzmarktstabilität als Voraussetzung für ein allgemeines Grundvertrauen in unser Geldsystem mit den herkömmlichen Spielregeln nicht mehr ausreichend absichern lässt. Statt einer sich den Ursachen dieser Entwicklung verschließenden Fortsetzung des bisherigen Weges bedarf es deshalb eines neuen Blicks auf die Funktionsweise des Finanzsystems.

Es gilt, sich von der allzu mechanistischen Sicht vermeintlicher Vorhersehbarkeit des Geschehens zu lösen. Die Geschehnisse auf den unzähligen Spielfeldern des globalen Finanzmarktgeschehens lassen schon deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit der verwendeten Variablen denkbarer Situationen zu, weil es an der dafür erforderlichen Transparenz mangelt. Trotz konzeptioneller Absichtserklärungen seitens der G20 und der sie in diesen Bemühungen unterstützenden OECD ist solche Transparenz ein Fernziel. Aber selbst wenn sie erreichbar wäre, lässt die Komplexität des unbe- rechenbaren Ineinanderwirkens von Geschehnissen auf Teilmärkten keine daraus ableitbaren Prognosen zu. Die Kipppunkte in systemisch kritischen Situationen sind und bleiben unberechenbar.

Es gilt daher, sich mit einfacheren, vielleicht aber gerade deshalb treffsichereren Prinzipien der Regulierung von Großbanken zu begnügen.

Dabei geht es zum einen um die nach wie vor anzustrebende Trennung jener Geschäftsfelder von Banken, deren Refinanzierung überwiegend durch anvertraute Spargelder und Giroeinlagen erfolgt, von spekulativen, marktwertabhängigen Aktivitä- ten im Wertpapier- und bankeigenen Immobilienbereich. Die bisherigen, bruchstückhaften Bemühungen um ein „Trennbankensystem“ sollten von daher wieder neu aufgenommen werden.

Noch entscheidender als diese gewissermaßen vertikale, auf Geschäftsfeldteilung zielende Stoßrichtung, ist jedoch die horizontale Dimension einer deutlich solideren Ausstattung des Fundaments von systemisch relevanten Großbanken durch Verstärkung des „echten“, demnach nicht risikogewichteten Eigenkapitalsockels. Während Basel III dafür lediglich eine Mindest-Leverage-Ratio von drei (!) Prozent vorsieht, liegen amerikanische Großbanken hier mit durchschnittlich acht bis zehn Prozent deutlich höher – eine Größenordnung, die sie sogar schon vor der Krise 2008 ausgewiesen hatten.

Angesichts der besonderen Anfälligkeit des europäischen Systems für zwischenstaatliche Ansteckung beim Auftreten von Großbanken-Problemen wäre demnach eine vergleichbare Mindestausstattung mit einer Leverage-Ratio von zehn Prozent erforderlich, um einigermaßen hinreichende Resilienz gegen die Auswirkungen systemischer Krisen zu gewährleisten.

Das Vorsichtsprinzip, welches wir in den Angleichungsbemühungen an das kapitalmarktorientierte System aufgegeben haben, lässt sich in der ursprünglichen Form nicht wiederherstellen. Angesichts der berechtigten Ambition, auch in Europa mit wesentlich dynamischeren Kapitalmärkten innovativen Unternehmen die Chance auf Investitionen zu geben, welche von Aktionären mitgetragen werden, die an deren Geschäftsmodell glauben, wäre dies auch kein sinnvolles Ziel.

Auf übergeordneter Ebene jedoch, dort, wo es um die Gestaltung neuer Spielregeln für ein möglichst nachhaltiges Finanz- und Bankensystem geht, macht dieses Vorsichtsprinzip Sinn. Dort ist es an der Zeit, sich von kleinteiligen, modellhaften Prognose-Illusionen zu trennen und Finanzstabilität durch eine Festigung der Fundamente des Systems anzustreben. Das für die Aufrechterhaltung von dessen Funktionstüchtigkeit so notwendige Vertrauen lässt sich damit zu geringeren Kosten und mit höherer Verlässlichkeit stärken als durch noch mehr Kontrolle.

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