Katholische Sozialakademie

Regeln ohne Werte sind wertlose Regeln

 

Beitrag für die KSOE-Nachrichten Juli 2011

Die Finanzmarktkrise hat eine Euro-Krise ausgelöst, die das europäische Projekt als Ganzes zu gefährden droht. Dennoch stocken die Bemühungen, dem globalen Bankensystem ein strengeres Regelkorsett zu verpassen. Immer deutlicher wird, dass wir die überfällige ordnungspolitische Erneuerung nur dann schaffen werden, wenn wir auch unsere Werte wieder ins Spiel bringen.

Folgekrise im Euro-Land

Die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen im vierten Jahr der Finanzkrise könnten kaum widersprüchlicher sein. Ein erfreulich hoher Beschäftigungsstand zeigt, dass sich die Realwirtschaft vom Schock im Herbst 2008 wieder erholt hat. Die Exportquoten in Deutschland und Österreich liegen auf Rekordniveau. Bis vor wenigen Wochen spiegelten auch die Kurse an den Börsen den Aufschwung wieder, bevor sich das Bild zuletzt wieder eintrübte.

Auf der anderen Seite wird immer deutlicher, dass die einzelnen Länder Europas auseinander driften. Spanien mit seiner Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent und noch höheren Beschäftigungsproblemen bei den Jungen ist dafür ein eindrückliches Beispiel, Irland mit seinen nicht mehr leistbaren Rettungsaktionen für gescheiterte Banken ein anderes. Ganz zu schweigen vom Sonderfall Griechenland, der nun zur Nagelprobe für die Frage wird, ob der Euro mehr ist als ein Währungsbündnis. Denn erst mit dem Schritt zur Fiskalunion – also der gegenseitigen Verpflichtung zur Einhaltung von Budgetzielen unter der Kontrolle eines neu zu schaffenden Europäischen Währungsfonds – würde die Abwärtsspekulation gegen hoch verschuldete Mitgliedsstaaten enden.

Irritierender Weise wird das Euro-Problem weitgehend isoliert von der Finanzkrise diskutiert, obwohl es doch deren unmittelbare Folge ist. Natürlich geht es auch um hohe Produktivitätsunterschiede und flächendeckende Neigung zu ausufernden Budgets in praktisch allen Mitgliedsstaaten. Aber ohne die abrupte Erhöhung der Staatsverschuldung im Durchschnitt der EU-Staaten um mehr als Drittel gäbe es – trotz des Sonderfalls Griechenland – wohl keine akute Krise der Gemeinschaftswährung.

Die europäischen Regierungen fingen nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers über Garantien, Bankenstützungen, Konjunktur- und Sozialpakete die Folgen des Finanzmarktschocks ab. Sie muteten ihren Bürgerinnen und Bürgern die unvermeidbaren Folgekosten der größten jemals getätigten budgetären Sonderanstrengung zu, um die damals drohende, vollständige Entgleisung des Bankensystems zu verhindern. Die Aufarbeitung in Form von Sanierungspaketen und die damit einhergehenden Verteilungskonflikten werden uns wohl bis zum Ende dieses Jahrzehnts beschäftigen.

Neue Spiele statt Sanierung

Konsequenterweise wären nun als Begleitmaßnahme zu den Sanierungsprogrammen und als Gegenleistung zur beherzten Risiko-Übernahme strenge Auflagen für das Bankensystem einzufordern, mit denen sichergestellt wird, dass künftige systemische Krisen in Zukunft nach Möglichkeit vermieden werden. Aber obwohl bereits einiges vorangebracht wurde, was noch vor drei Jahren nicht durchsetzbar gewesen wäre – eine einheitliche europäische Finanzmarktaufsicht etwa, und ein durchaus anspruchsvolles Forderungsprogramm an die G-20-Länder – sind wir von einer grundlegenden Sanierung des globalen Finanzsystems noch viel zu weit entfernt.

Die Spieltische des „Kasino-Kapitalismus“ werden längst wieder heftig frequentiert, an flüchtigen Kapitalmarktwerten orientierte Bilanzen produzieren Scheingewinne, die sogenannten „Schattenbanken“ existieren weiter und für die Schaffung höherer Eigenmittelpolster gibt es lange Übergangsfristen. Das viel diskutierte Regelwerk von „Basel III“, auf das in der Öffentlichkeit so große Stücke gehalten werden, erweist sich als technokratischer Papiertiger, der zu einem großen Sprung ansetzt, um – im sprichwörtlichen Sinn – als Mouse-Pad auf den Computertischen in den Handelsräumen der internationalen Großbanken zu enden.

Unbegrenzte Geldschöpfung durch Basel III

Am zahnlosesten ist die Umsetzung dort, wo es um die Begrenzung des Ausmaßes geht, in dem sich Banken verschulden und damit unkontrollierte Kreditgeldschöpfung betreiben können. Erst 2018 (!) soll das Vielfache der Eigenmittel, bis zu dem Fremdmittel aufgenommen werden können („leverage ratio“), auf eine – viel zu hohe – Obergrenze von 33 limitiert werden, was einem „echten“ Eigenkapital-Prozentsatz von nur 3 Prozent entspricht. Kritische Experten sind sich darüber einig, dass die Obergrenze des Verschuldungsfaktors mit dem Zehnfachen des Eigenkapitals zu begrenzen wäre, wollte man das Bankensystem wirksam vor künftigen Zusammenbrüchen bewahren.

Der aus Vertretern großer Notenbanken zusammengesetzte Ausschuss für Bankenaufsicht bei der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gibt sich davon jedoch unbeeindruckt und geht über Systemkosmetik nicht hinaus. Zwar werden die Qualitäten des erforderlichen Kernkapitals künftig genauer festgelegt und leichte Anhebungen der Eigenmitteldecke vorgenommen. Auch gibt es Fortschritte hinsichtlich strengerer Eigenmittelvorschriften für Kreditgarantien (CDS) und Derivate. Am gefährlichen Prinzip der Risikogewichtung aber wird nicht gerüttelt.

Viel zu groß ist nach wie vor das Vertrauen in die Messbarkeit künftiger Risiken und die damit verbundene Abhängigkeit vom Urteil der Rating-Agenturen. Diese lagen aber bei der Einschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit sogenannter „synthetischer“ Wertpapiere, die sich aus gebündelten Einzelforderungen zusammensetzen und in Gestalt der sogenannten Subprime-Papiere zum Auslöser der Krise wurden, um mehr als das Dreihundertfache daneben. Dennoch werden sie auch in Zukunft zum Maßstab der Risikomessung und der gewichteten Eigenmittel-Unterlegung gemacht. Die Bankenlobbys haben offenbar wirksame Arbeit geleistet und sichern sich ihre Spielwiesen für die nächste Welle an „Finanzinnovationen“, mit denen auch die kommende Regulierung wieder so weit wie möglich ausgereizt werden kann.

Gerade das aber gibt Anlass zur Besorgnis. Denn nur tiefgreifende und daher auch spürbare, die Dimension der inflationär aufgeblasenen Finanzwirtschaft dämpfende Maßnahmen können uns nachhaltig aus der Gefährdungszone herausführen.

Ein demokratiepolitisches Problem

Sobald es über regulierungstechnische Details hinaus an die Substanz des Problems geht, finden sich regelmäßig Forscher an Universitäten und Experten von sogenannten Think-Tanks, die internationalen Großbanken und deren Lobby-Organisationen ideologischen Flankenschutz geben, wenn sie wieder einmal in Alarmismus verfallen und sich – wie vor der Krise – möglichst jede Einmischung in ihre riskante Geschäftsgebarung verbieten, widrigenfalls eine Kreditverknappung drohe.

Dieses Festhalten an den Glaubenssätzen der herkömmlichen Finanzmarktökonomie wird zunehmend zu einem wirtschaftsethischen Problem und zu einer demokratiepolitischen Herausforderung. Denn so sehr der Großteil der Handlungsweisen, die zur Katastrophe führten, vor dem Ausbruch der Krise durch eine kollektive Fehlentwicklung erklärbar ist, die neben den Akteuren in den Finanzinstitutionen auch die Vertreter der Mainstream-Theorie an den Universitäten, die Medien und viele private Anleger eingeschlossen hat, so sehr ist es nach den gemachten Erfahrungen nicht mehr möglich, weiterzumachen wie zuvor.

Wenn es wieder darauf hinauslaufen soll, dass Gewinne aus der Aufschwungphase den Spielern gehören und für die Verluste im Abschwung zur Abwehr einer noch größeren Katastrophe die Gesellschaft haften soll, wird es dafür nicht nur kein Geld mehr geben. Die Bürgerinnen und Bürger würden der Wiederholung einer derart asymetrischen Risiko-Verteilung zu Recht ihre Zustimmung verweigern.

Zurück zum Primat der Politik

Eine für die künftigen Entwicklungen schädliche Legitimationskrise unseres Wirtschaftssystems kann deshalb nur vermieden werden, wenn wir aus dem Scheitern der alten Spielregeln lernen und aus den gemachten Erfahrungen Konsequenzen ziehen. Vor allem gilt es, wieder zum Grundsatz zurückzukehren, dass Geldschöpfung immer auch mit Wertschöpfung für die gesamte Gesellschaft verbunden sein muss. Jene Teile der Finanzwirtschaft, die sich davon verabschiedet haben, müssen gezielt zurückgedrängt werden, um nicht neuerlich zum Auslöser von Finanzmarkt-Schocks zu werden.

Den längst verlorengegangenen Primat der Politik gegenüber den Finanzmärkten neu durchzusetzen ist der einzige Weg, um  wieder eine Wirtschaftsordnung herzustellen, die dem Leitbild einer „verantwortlichen Marktwirtschaft“ entspricht. Die Zeit, in der die Finanzmarkt-Ökonomie wegen ihrer behaupteten Effizienz ein Primat vor der Politik beansprucht hat, ist mit dieser Krise vorbei.

Weil wir uns aber schon allzu sehr an die faktische Selbstregulierung der Geldwirtschaft gewöhnt hatten, entstand während der letzten Jahre ein ordnungspolitisches Vakuum. Wir müssen deshalb wieder ganz von vorne anfangen, am Leitbild einer verantworteten Marktwirtschaft zu arbeiten, deren Dynamik soziale Spaltungen verringert, statt sie zu vermehren. Walter Eucken, einer der geistigen Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“ nannte das „Ordnungspolitik“.

Ein ordnungspolitischer Neubeginn

Das Entscheidende dabei: es gibt keine wertneutrale Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung eines Wirtschaftssystems. Eine erfolgreiche Wirtschaftsordnung ist kein Selbstläufer, wie uns das die Idealbilder von einer perfekten Marktökonomie vorgegaukelt haben. Neue Regeln allein genügen nicht, sie bedürfen auch der Verankerung in einem möglichst breiten, gesellschaftlich mitgetragenen Wertefundament.

Wir sind deshalb aufgefordert, wieder eine ordnungspolitische Perspektive zu entwickeln, die auch die Finanzwirtschaft auf Ziele verpflichtet, statt uns mit ihren autistischen Irrläufen weiter zu gefährden. Letztlich geht es um das gemeinsame Leitbild einer „sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten wirtschaftlich-produktiven Ordnung“. Diese Formulierung aus der jüngsten Sozialenzyklika sollten wir bei der Festlegung der Koordinaten einer neuen, wieder sach- und menschengerechten Finanzmarktökonomie vor Augen haben.

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