Karl R. Popper und die Marktwirtschaft

Die offene Gesellschaft und ihre Werte

 

Referat beim Europäischen Forum Alpbach 2002, publiziert im Tagungsband „Kommunikation und Netzwerke

Die aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten machen in einer insgesamt kritischen Phase unseres Wirtschaftssystems bewusst, dass unser bisheriger Zugang zu Fragen der Wirtschaftsethik einer grundlegenden Überprüfung bedarf. Wenn auch im Lauf der vergangenen Jahre Beachtliches erreicht wurde – von Sozialbilanzen börsennotierter Gesellschaften bis zu ökologisch/ethischen Kapitalanlagen – ist doch fraglich, ob wir auch in Zukunft damit auskommen, wirtschaftsethische Fragen auf einzelwirtschaftlicher Ebene abzuhandeln. Denn viele der offenen Probleme sind wohl nur mehr auf jener Ebene der Wertediskussion lösbar, auf der über die Weiterentwicklung des Wirtschaftssystems als solchem entschieden wird.

Eine solche Verlagerung der Wertediskussion auf die Systemebene fordert auch die Führungskräfte von Unternehmen heraus. Nachdem eine einseitig auf Kapitalmarktinteressen orientierte Marktwirtschaft (wieder einmal) ihre Unschuld verloren hat, werden wir nämlich in aller Deutlichkeit daran erinnert, dass sich die zentralen Fragen der wirtschaftlichen und der politischen Ordnung nicht voneinander trennen lassen und deshalb auch nicht auf Dauer an die Politik delegierbar sind.

Wenn das aber so ist, dann wird sich wohl auch an der bisherigen Abstinenz der Führungskräfte gegenüber der res publica etwas ändern müssen. Mehr noch: Die proaktive Mitgestaltung der Entwicklungsbedingungen unseres Wirtschaftssystems in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wird für unternehmerische Verantwortungsträger zum entscheidenden Ort der sozialethischen Bewährung.

Zwei Gründe für die Notwendigkeit einer systemhaften Erneuerung

Ein erster, wesentlicher Grund für die Notwendigkeit einer systemhaften Erneuerung ist wohl darin zu sehen, dass die etwa ein Jahrzehnt währende Phase einer allzu naiven Sicht der Ökonomie als einem marktliberalen Einheitsrezept für jeden Wirtschaftsraum, ja für die Weltwirtschaft als Ganze, vorbei ist.

So verlockend bequem es war, die Welt-Ökonomie nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Planwirtschaften über einen einzigen System-Leisten zu schlagen, der gleich auch auf alle Länder der Dritten Welt anwendbar wäre, so wenig entspricht diese Wunschvorstellung der Realität. Bei der Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für die marktwirtschaftliche Systementfaltung ist in unterschiedlichen Volkswirtschaften eben von sehr verschiedenartigen Traditionen und Entwicklungsphasen auszugehen. Wer sie verdrängt oder bewusst übergeht, agiert an der Realität vorbei.

Diese Erkenntnis ist wenig überraschend. Und doch wirkt sie verstörend für all jene, die angenommen hatten, dass Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ nach ihrer Widerlegung im Raum des Politischen wenigstens für das Wirtschaftssystem gilt. Die Realität zeigt uns hingegen, dass unterschiedliche Kulturräume auch differenzierte Ausprägungen des marktwirtschaftlichen Kanons aufweisen.

Ein zweiter Anstoss kommt aus der aktuellen Kapitalmarktsituation und der damit verbundenen Krise des Vertrauenskapitals. Eine ganze Reihe von Fragen leiten sich daraus ab: nach den richtigen Methoden zur Bewertung von Unternehmen, realitätsgetreuen Bilanzierungssystemen, angemessenen Entlohnungssystemen für Manager, nach der künftigen Relation von Finanz- und Realwirtschaft und einer neuen Finanzierungskultur.

All diese Fragen sind nicht irgendwelche berufsständische Spezialthemen, sondern Systemfragen. Um sie zu lösen, genügt daher auch nicht der Appell zur Einhaltung individueller und kollektiver Ethik-Standards. Neue Ansätze müssen vielmehr auf der Systemebene diskutiert, erarbeitet, und im demokratischen Wettstreit erkämpft werden.

Wirtschaftssysteme müssen „Sinn machen“

Die Erfahrung zeigt, dass sich Wirtschaftssysteme und die ihnen zugrundeliegenden Wertemuster auch in einer grundsätzlich liberalen Gesellschaftsordnung nicht beliebig trennen lassen von einer jeweils privaten Wertewelt. Beide haben viel miteinander zu tun, so wie auch in erfolgreichen Unternehmen Wertschöpfung und Wertschätzung in einem engen Zusammenhang stehen.

Nachhaltige Erfolge von Marktwirtschafts-Systemen können sich deshalb nur einstellen, wenn sie „Sinn machen“, weil sie als für die Gesamtgesellschaft wertvoll erlebt werden. Und sie machen eben nur dann Sinn, wenn sie neben der materiellen Wertschöpfung auch immaterielle Werte berücksichtigen. In einer freien Gesellschaft lässt sich eine solche sinnvolle Wirtschaftsordnung am besten über die Gestaltung geeigneter Spielregeln für das marktwirtschaftliche Kräftespiel weiterentwickeln.

Wenn es aber um die Weiterentwicklung dieser Spielregeln geht – wer bewahrt uns dann vor gefährlichen, deterministischen Festlegungen der Inhalte dieser Sinnhaftigkeit? Diese Frage zeigt ein zentrales Risiko der Diskussion um Wirtschaftordnung und Ethik auf.

Wertepluralismus statt „One size fits for all“

Tatsächlich ist es entscheidend, dass wir uns dem Thema aus einer wertepluralistischen Sicht nähern, die das Wirtschaftssystem als Ordnungsrahmen einer spontanen, evolutionären Ordnung zukunftsoffen hält. Der gefährliche „Weg zur Knechtschaft“ (F.A.Hayek) beginnt nämlich immer gleich um die nächste Ecke, - dort, wo ein deterministisches Weltbild Gerechtigkeitsvorstellungen um einen zu hohen Preis an Freiheit umzusetzen sucht. Auf Alpbacher Boden ist hier an Sir Karl Poppers Bild vom „Elend des Historizismus“ zu erinnern: Die Anhänger historizistischer Weltbilder werden mit ihren geschlossenen Entwürfen vom Endzustand einer Gesellschaft letztlich zu Feinden der offenen Gesellschaft.

Andererseits müssen wir es aber wagen, gerade deshalb das allzu geschlossene Weltbild eines idealisierten Marktsystems zu entzaubern, sozusagen den Markt-Determinismus und seine absolutistischen Lordsiegelbewahrer zu entthronen. Und zwar – und das macht die Sache etwas anspruchsvoll – ohne die anti-marktwirtschaftlichen Vorurteile der Drachentöter des Neo-Liberalismus.

Offensichtlich ist es nicht ganz einfach, an ein Wirtschaftssystem den Maßstab der Sinnhaftigkeit zu legen, ohne grundsätzliche ordnungs-politische Positionen zu verdeutlichen. Genau das ist aber auch dringend notwendig, wenn wir der schalen Oberflächlichkeit einer rechthaberischen „One size fits for all“-Ideologie entkommen wollen. Sie stößt vor unser aller Augen an so offensichtliche Grenzen, dass eine Neu-Positionierung längst überfällig ist.

Letztlich muss die Attraktivität und Glaubwürdigkeit unserer Art zu wirtschaften jeder Generation neu verdeutlicht werden, und zwar nicht ausschließlich an materiellen, sondern auch an sozialen und ökologischen Indikatoren. Der einer Gesellschaft zugrundliegende Werte- und Zielkanon muss einsehbar und erlebbar sein, wenn die Motivation für die Lebensverwirklichung in dieser Gesellschaft erhalten bleiben soll. Es geht dabei um Werte wie Chancengleichheit und Fairness, oder, in den Begriffen von Johannes Schasching, dem Doyen der Christlichen Soziallehre, um eine ausgewogene Kombination von Sachgerechtigkeit, Menschengerechtigkeit und Naturgerechtigkeit.

Erst wenn wir aus dieser inneren Überzeugung in der Lage sind, unserem Wirtschaftssystem ein sozialethisch akzeptables Fundament zurückzugeben, werden wir auch Menschen in anderen Kulturkreisen und mit anderen Herkunfts-Geschichten davon überzeugen können, dass wir ein erfolgreiches System haben, das zu importieren sich auch für diese anderen Kulturkreise lohnt.

Ich will im Folgenden zunächst einen Blick auf die Kapitalmarktkrise als aktuellen Anstoß für die Ethik-Debatte machen. Im zweiten Teil meines Referates werde ich aus mehreren Blickwinkeln auf die anstehende Neuformulierung der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingehen. Ich tue dies aus Sicht des sozial-marktwirtschaftlichen Modells und will zeigen, dass wir, wenn wir die Aufgabenstellung einer ordnungspolitischen Neugestaltung ernstnehmen, genau genommen nichts anderes tun als dessen couragierte Begründer: Sie haben zum Zeitpunkt der grössten Instabilität, mitten im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, die Fundamente eines Gedankenbaues gelegt, der sich im Grossen und Ganzen bis heute als solide und tragfähig erwiesen hat.

Es würde mich freuen, wenn ich Sie mit meinen Überlegungen für den Gedanken gewinnen könnte, dass alles dafür spricht, den beispielhaften Erfolg dieses unter verschiedenen Bezeichnungen umgesetzten europäischen Weges durch eine gründliche ordnungspolitische Erneuerung weiter fortsetzbar, ja sogar zum Modell einer differenzierten und deshalb klugen Globalisierung zu machen.

Die Kapitalmarktkrise als wirtschaftsethische Herausforderung

Die Spekulationswelle an den Weltbörsen hat zunächst seit Anfang 1997 viele Unternehmenswerte, gemessen an der Markt-Kapitalisierung, nach oben getragen, auf das höchste Niveau seit Menschengedenken. Seit diese Welle ab dem Überschreiten des Kurszenits im März 2000, wieder in sich zusammenfällt, reisst sie nicht nur die Kursgewinne der vergangenen Jahre mit sich – 16 000 Milliarden Euro seit dem März 2000 - , sondern auch das Vertrauen jener, die entweder selbst in den Boom investiert oder ihre vermeintliche Pensionsvorsorge institutionellen Investoren anvertraut haben.

Die meisten dieser Investoren hatten sich im Verein mit den Investmentbankern, Analysten, Medien und sogar den Wirtschaftsforschern während des Booms der „New Economy“ von der spekulativen Hoffnung auf die Aufhebung der ökonomischen Schwerkraft leiten lassen. Doch die wundersame „Transsubstantiation“ (Erich Streissler) der wirtschaftlichen Grundgesetze ist, wie die Börsenkursentwicklung seit zwei Jahren zeigt, ausgeblieben.

Nach der Flutwelle beginnen die Aufräumungsarbeiten. Bei der Feststellung der Schadensbilanz zeigt sich ein bestürzender Wert-Verfall im doppelten Wortsinn – sowohl bei der Marktkapitalisierung als auch beim Vertrauenskapital. Wir begegnen in den Medien ungewohnten Bildern von Spitzenmanagern, die noch bis vor wenigen Wochen als Wirtschaftshelden gefeiert wurden, und nun in Handschellen ins Blitzlichtgewitter treten. Der Untreue müssen sich plötzlich jene Aufsichtsräte bezichtigen lassen, die im Zusammenhang mit spektakulären Unternehmensverkäufen grosszügigen Abfindungen der weichenden Manager des übernommenen Konzerns zugestimmt haben.

Eine irritierte Öffentlichkeit erwartet vom Gesetzgeber drastische regulatorische Eingriffe und von den Gerichten drakonische Vorgangsweisen, damit sich die inkriminierten Vorgänge der Bilanzfälschung, der masslosen Selbstbedienung mit Spitzengehältern, der unkontrollierten Interessensverquickung von Analyse und Aktienhandel und ähnlichem nicht wiederholen.

Ob sich jedoch Entgleisungen einer jedem vernünftigen Maß entglittenen Kapitalmarktkultur mit dem plötzlichen regulatorischen Überschwang einer aus ihren Spekulationsträumen unsanft erwachten Gesellschaft korrigieren lassen, erscheint mir zweifelhaft. Der Versuch, Aktionsspielräume wirtschaftlicher Verantwortungsträger über die strafrechtliche Sanktionierung von Grenzüberschreitungen so zu beschneiden, dass künftige Verfehlungen weitgehend ausgeschlossen sind, muss immer unvollständig bleiben und birgt das Risiko beträchtlicher rechtsstaatlicher Kollateralschäden.

Umso wichtiger wird die Selbstregulierung durch Unternehmer, Führungskräfte und Berater. Ethik und Moral werden deshalb plötzlich zu Titel-Themen der wichtigsten Wirtschaftsmagazine. Und es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Monaten so intensiv wie nie zuvor um neue Regelwerke des unternehmerischen Wohlverhaltens gerungen wird. Es fällt dabei auf, wie erstaunlich unkritisch die neue „Corporate Governance“ den Mustern des anglo-amerikanischen Gesellschaftsrechtes entlehnt wird. Die europäischen handelsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Traditionen werden beiseite geschoben, obwohl sie sich jahrzehntelang bewährt haben.

Aber wie immer die inhaltliche Bewertung der neuen Wohlverhaltens-Codes ausfällt: in Summe setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass noch so umfangreiche Regelwerke – egal ob sie sich an den anglo-amerikanischen oder an einen europäischen Rechtsrahmen halten – ohne einen ethischen Minimalkonsens nicht nur in Unternehmen, sondern für eine ganze Gesellschaft kraft- und wirkungslos bleiben müssen.

Eine verlässliche Kapitalmarkt- und Wirtschaftskultur lässt sich nicht nur auf Verbots- und Wohlverhaltenskatalogen aufbauen. Sie bedarf, um zu funktionieren, schlicht eines Fundaments an geübten Bürgertugenden, Usancen und Kaufmannsmoral. Die Anonymisierung der Kontrakte – an den Kapitalmärkten wird fast ausschliesslich mit fremdem, durch die Fonds von seinen eigentlichen Eigentümern entkoppeltem Kapital gespielt – mag Vorgangsweisen begünstigt haben, bei denen auf Kosten Dritter zunächst Spielräume ausgelotet, dann überschritten und zuletzt bewusst umgangen werden. Umso lauter wird nun der Ruf nach einer ethischen Neu-Besinnung.

Dieser Appell zur Be-Sinnung bezieht seine Aktualität aber nicht nur aus der Vertrauenskrise auf den Kapitalmärkten. Seit über die Globalisierung diskutiert wird, gibt es eine entscheidende Diskussionslinie zu Fragen der Wirtschaftsethik auf der Ebene der Wirtschaftsordnung selbst.

Berücksichtigt man, dass sich wesentliche Teile der Globalisierungskritik gegen die Übertreibungen eines finanzmarktorientierten Marktliberalismus richten und dass andererseits die Kapitalmarktkrise auch als eine Niederlage der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft interpretiert werden kann, so zeigt sich, dass die beiden Auslöser der aktuellen Ethik-Debatte enger miteinander verwandt sind, als das auf den ersten Blick erkennbar ist.

Die Werte-Fundierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung – der sozial-marktwirtschaftliche Systemkonsens

Schon Adam Smith, Aufklärer, Moralphilosoph und Begründer der Marktwirtschaft hat das Funktionieren des Marktes an bestimmte zivilisatorische Standards geknüpft. Seine „unsichtbare Hand“, jener geradezu als göttlicher Wink empfundene Mechanismus, mit dem in einer Wettbewerbswirtschaft aus millionenfachen eigennützigen Aktivitäten der Marktteilnehmer gesamtwirtschaftlicher Wohlstand entsteht, setzt die Einhaltung selbstverständlicher moralischer Grundregeln wie etwa der Vertragstreue voraus.

Die Marktwirtschaft war ein Konzept der Aufklärung. Sie wurde von Adam Smith erstmals modellhaft formuliert, als zu beobachten war, dass die grösser gewordene Freiheit der englischen Bürger des 18.Jahrhunderts eine vorher nicht dagewesene materielle Blüte hervorbrachte.

F.A.Hayek stellt in einem Vortrag über die „Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung“ fest, dass sich der Liberalismus demnach „aus der Entdeckung einer sich selbst bildenden oder spontanen Ordnung gesellschaftlicher Erscheinungen“ ergab, „in der die Kenntnisse und die Geschicklichkeit aller Mitglieder der Gesellschaft weit besser genutzt werden als in irgendeiner durch zentrale Leitung gebildeten Ordnung; und daraus folgte der Wunsch, sich dieser mächtigen spontanen Ordnungskräfte so weit wie möglich zu bedienen.“

In einer grundlegenden Rede über „Das moralische Element in der Unternehmerwirtschaft“ erinnert er daran, dass „eine freie Gesellschaft nur dort gut funktionieren wird, wo freies Handeln von starken Moralvorstellungen geleitet ist, und dass wir daher alle die Vorteile der Freiheit nur dort geniessen werden, wo die Freiheit bereits wohlbegründet ist. Hinzufügen will ich ...  dass sich in einer freien Gesellschaft auch moralische Maßstäbe herausbilden können, die, wenn sie allgemein werden, die Freiheit und mit ihr die Grundlage aller moralischen Werte zerstören werden.“

Das ist der Punkt. Genau darum geht es aus der Wahrnehmung vieler, die mit Sorge das Überhandnehmen der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft erleben. Wir haben also, dieser letztlich dem Kant´schen Kategorischen Imperativ entsprechenden Sichtweise folgend, durch die Arbeit an den richtigen Rahmenbedingungen darauf zu achten, dass unsere freie Gesellschaft im wesentlichen jenen Maßstäben folgt, die, wenn sie allgemein werden, die Freiheit und mit ihr die Grundlage aller moralischen Werte weiter fördern.

Und dann kommt Hayek zu einem erstaunlichen, wiederum sehr klar formulierten Schluss: „Es gereicht dem System der freien Unternehmerwirtschaft zur Ehre, dass es in ihm zumindest möglich ist, daß jeder einzelne, während er seinen Mitmenschen dient, das für seine eigenen Zwecke tun kann.“ – eine andere Beschreibung dessen, was Adam Smith mit seiner „unsichtbaren Hand“ meint – „Doch das System selbst ist nur ein Mittel, und seine unendlichen Möglichkeiten müssen im Dienst von Zielen genützt werden, die für sich stehen.“

Das System ist also – auch aus liberaler Sicht – Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck! In eben dieser Aussage liegt der grösste gemeinsame Nenner all jener, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg hinter der Sozialen Marktwirtschaft und verwandten ordnungspolitischen Modellen versammelt haben, die als klare Alternative zu Laissez-faire und Planwirtschaft entstanden sind.

Die Wechselwirkung von ökonomisch-sozialem und politischem Denken

Mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde ein bewusst eigenständiger Weg zwischen dem gescheiterten Neo-Liberalismus der Dreissigerjahre und dem Versagen der Planwirtschaften eingeschlagen. Entscheidendes Gestaltungsprinzip ist das politisch verantwortete Zusammenspiel von Rahmenbedingungen und Marktdynamik. Oder anders: der Einsatz des Entdeckungsmechanismus Markt und seiner unübertrefflichen Wertschöpfungspotentiale für die Schaffung von Wohlstand für möglichst viele bei gleichzeitigem sozialem Ausgleich für die Schwächeren und – diese Hinzufügung stammt aus den Siebzigerjahren – einem auf Nachhaltigkeit angelegten Umgang mit der Umwelt.

F.A.Hayek habe ich übrigens deshalb so ausführlich zitiert, weil er – entgegen den Aussagen jener reinen Markt-Puristen, die ihn mitunter als Kronzeugen gegen die Soziale Marktwirtschaft ins Treffen führen – dieses System ganz ausdrücklich gewürdigt hat. Er bezeichnet die von Persönlichkeiten wie Ludwig Erhard, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack „zielbewusst durchgeführte Politik der sozialen Marktwirtschaft“ als eine „kaum erhoffte, eindrucksvolle Wiederbelebung des Wirtschaftsliberalismus“.

Politisch gesetzte Rahmenbedingungen für die gesellschaftlich erwünschte Entfaltung der spontanen Ordnung des Marktes und der Wettbewerbswirtschaft: das war nicht nur die Gründungs-Plattform des deutschen Wirtschaftswunders in der Ausprägung der Sozialen Marktwirtschaft, sondern das ordnungs-politische Grundverständnis der europäischen Union von Anfang an.

Liberale, Christdemokraten und – nach anfänglichem Misstrauen und daher mit einigen Jahren Verspätung – auch Sozialdemokraten konnten diesem historischen Kompromiss beipflichten und darauf unterschiedliche Vorstellungen von der jeweils konkreten Ausprägung der Rahmenbedingungen entwickeln.

Es war gleichzeitig ein gewissermassen säkularisiertes Modell, das – und auch darin liegt ein Element der Aufklärung – unterschiedliche Wertemuster losgelöst von allfälligen Alleinvertretungsansprüchen der Ursprungsideologien in einen demokratischen Wettstreit um die Gestaltung der Rahmenbedingungen treten liess.

Mit einer solchen Spielregel konnten Liberale, die ihren Marktpurismus aufzugeben bereit waren ebenso leben wie Christdemokraten, die sich zur Liberalität bekannten, nachdem sie sich vom politischen Katholizismus emanzipiert hatten, wie auch Sozialdemokraten, die sich von der als illiberal erkannten Marktfeindlichkeit des frühen Sozialismus verabschiedet hatten.

Karl Dietrich Bracher schildert in seiner „Zeit der Ideologien“ benannten Geschichte des politischen Denkens im 20.Jahrhundert, wie die Jahre nach 1945 geprägt waren von einem zusehends gemeineuropäischen und gemeindemokratischen Politikverständnis, das ungleich stärker und allgemeiner als das bisherige politische Denken vom Primat der Freiheit und Menschenwürde, von der Bedeutung eines Ausgleiches individueller und sozialer Rechte, vom unverbrüchlichen Wert der pluralistischen Demokratie vor allen monolitischen Ideologien und Systemen überzeugt und durchdrungen war“.

„Das stand“ – so Bracher weiter – „ in scharfem Kontrast nicht nur zu den sozio-ökonomischen Krisenerfahrungen der zwanziger und dreißiger Jahre, die soviel zur Zerrüttung der Demokratie beigetragen hatten, sondern auch zu dem offensichtlichen Unvermögen der kommunistischen Systeme, den verheissenen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu verwirklichen. Die Rückwirkungen und Wechselwirkungen von ökonomisch-sozialem und politischem Denken sind wohl nie in der Geschichte so eindrucksvoll hervorgetreten.“

In diesem Sinn ging es bei der Einigung auf die sozial-marktwirtschaftliche Plattform um ein gut gelungenes, der Geschichte abgerungenes Stück Ordnungspolitik oder politischer Ökonomie, auf das ich hier deshalb in dieser Ausführlichkeit eingehe, weil es mir wichtig erscheint, dass wir uns unter den heutigen Zeitumständen dieser Wechselwirkung zwischen ökonomisch-sozialem und politischem Denken, aber auch zwischen Ethik und Ökonomie wieder viel bewusster werden.

Am Beispiel der Umweltfrage: Die Rahmenordnung als systematischer Ort der Moral

In seiner Stellungnahme zum ethischen Fundament der Sozialen Marktwirtschaft für die Bertelsmann-Stiftung arbeitet der Wirtschaftsethiker Karl Homann eindrücklich heraus, dass in einer modernen, wertepluralen Gesellschaft „der systematische – nicht einzige – Ort der Moral die Rahmenordnung“ ist. An dieser Rahmenordnung und ihrer ständigen Erneuerung mitzuwirken, wird folglich zur entscheidenden Herausforderung an die demokratischen Eliten.

Es geht um die immer neu zu erringende Einigung von gesellschaftlichen Gruppierungen mit durchaus unterschiedlichen Zielbündeln auf die Methode, mit der die Dynamik einer liberalen Wettbewerbswirtschaft, ihre Funktion als Entdeckungs- und Wertschöpfungsmechanismus für soziale und ökologische, gesamtgesellschaftliche Ziele nützlich gemacht werden kann.

Es ist eindrucksvoll, wie dies von den Sechzigerjahren an in der Sozialpolitik geglückt ist und wie weitgehend auch die Umweltfrage ab Anfang der Siebzigerjahre in den marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen integriert werden konnte.

 

Auch wenn aus ökologischer Sicht noch sehr vieles unerledigt ist: Entscheidend scheint mir, dass sich die sozial-marktwirtschaftliche Plattform als integrations-tauglich gegenüber den Grünbewegungen herausgestellt hat, die ja zunächst noch mehrheitlich mit einem anti-marktwirtschaftlichen Bild angetreten waren. In beachtlichen Teilen der Grünparteien setzte sich in der Folge eine Denkhaltung durch, mit der weitgehend anerkannt wurde, dass die – übrigens von Alfred Müller-Armack schon in den Sechzigerjahren geforderte – Integration der ökologischen Zielsetzungen in das Zielbündel der Sozialen Marktwirtschaft gelingen kann, ja, dass sich die marktwirtschaftliche Dynamik bei Setzen der richtigen Rahmenbedingungen für ökologische Ziele genauso instrumentalisieren lässt wie für soziale.

Die jeweils konkrete Ausprägung der Ziele und die Wahl der die Rahmenbedingungen konkretisierenden Instrumente bleibt offen – sie müssen in einer offenen Gesellschaft ständig neu definiert, demokratisch erstritten, angepasst und im Realexperiment der täglichen Bewährung dem Wirklichkeitstest unterworfen werden. In diesem Kontext spielt sich heute auch die Auseinandersetzung um die „richtige“ Globalisierung ab.

Die Soziale Marktwirtschaft als Globalisierungsmodell

Wie bei der Ökologisierung besteht auch in der Globalisierungsfrage durchaus die Chance, ein adaptiertes Gefüge neuer Rahmenbedingungen zu erreichen, das tragfähig ist. Der Weg dorthin aber wird lang sein.

Mein Grundverständnis ist, dass im Aufbau einer richtig gestalteten marktwirtschaftlichen Ordnung für viele heute noch verarmte Länder der Schlüssel zu mehr Wohlstand und zur Entwicklung demokratischer Verhältnisse liegen kann. Dies gilt aber nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Es genügt zweifellos nicht, diesen Ländern mit ihrer oft demokratiepolitisch so schwierigen Ausgangslage globale Marktfreiheit als Instant-Lösung für alle Probleme aufzudrängen, ohne dass ein fundierterer ordnungspolitischer Ansatz mitgeliefert wird, der die Marktwirtschaft auch „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Wilhelm Röpke) umzusetzen hilft.

So wie die „Die Grenzen des Wachstums“ der Anstoss für die Ökologisierung des Marktsystems waren, müsste heute der Club of Rome eine Studie initiieren, in der auf Basis sorgfältiger sozial-ökonomischer Analysen die Grundzüge einer globalen Ordnungspolitik erarbeitet werden. Es gilt, über die Voraussetzungen Klarheit zu gewinnen, unter denen das Modell der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zum Schlüssel einer erfolgreichen Globalisierung werden kann. Denn die Grenzen des Wachstums liegen heute nicht mehr so sehr in den materiellen Ressourcen, sondern in den Grenzen des Vertrauens in ein allzu einseitig auf kurzfristige Kapitalinteressen fixiertes Bild der Marktwirtschaft.

Wie auf der nationalen und europäischen Ebene geht es auch auf globaler Ebene um Rahmenbedingungen, unter denen der Markt in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wirkt. Wir müssen uns mit der Frage befassen, wie die Ungleichgewichte zwischen den etablierten Marktwirtschaften und den im Übergang zum Marktsystem befindlichen Staaten und ihren Menschen einem Ausgleich näher gebracht werden können.

Die Überschriften zu den Fächern des komplexen Instrumentenkastens einer globalen Ordnungspolitik sind uns grossteils schon bekannt. Sie heissen faire Wettbewerbspolitik, vergleichbare Besteuerung unternehmerischer Wertschöpfung, Besteuerung von Kapitaltransfers, Durchsetzbarkeit sozialer wie ökologischer Mindeststandards. Wir wissen aber noch viel zu wenig über die politisch-ökonomischen Voraussetzungen in den betroffenen Ländern.

Die in Sachen sozialer Marktwirtschaft erfahrenen Europäer legen sich in der Suche nach dem geeigneten Umgang mit den Chancen der Globalisierung und den Gefahren einer einseitig marktökonomischen Welteroberung zuviel Zurückhaltung auf. Obwohl Europa aus seiner Erfahrung weiss, worum es bei der Konstituierung erfolgreicher politischer Systeme geht, scheint es oft, als hätte wir die Erfolgsbedingungen des sozial-marktwirtschaftlichen Systems vergessen.

Jedenfalls war wenig europäischer Widerspruch zu merken, als plötzlich die „Marktwirtschaft ohne Vorzeichen“ (Vaclav Klaus) in Mode kam und sich im Bann des Millenniums-Booms die wirtschaftspolitischen Unterwerfungsgesten gegenüber den aus einer völlig anderen Tradition kommenden neo-liberalen Wirtschaftsmodellen der anglo-amerikanischen Länder häuften.

Vom naiven Markt-Universalismus zu einer aufgeklärten Marktwirtschaft

Der gefährlichen Simplizität des naiven Universalismus, mit dem von den „Globophilen“ unterstellt wird, dass Freihandel automatisch alles andere nach sich zieht, steht heute längst eine „Rebellion der Realität“ (Alain Finkielkraut) entgegen, in der uns oft brutal vor Augen geführt wird, dass es so einfach nicht geht. Es gibt nach dem Donnergrollen des „Clash of Civilizations“ (Huntington) keinen Grund mehr zur Annahme, dass unser Verständnis von Moderne von selbst zum Weltmodell wird.

In anderen Weltgegenden funktionieren – von der konfuzianischen Variante der neuen chinesischen Wettbewerbswirtschaft bis zur arabischen Variante der „Moderne“ – Formen eines sich ankündigenden „techno-spirituellen“ 21.Jahrhunderts (Finkielkraut), die – vielleicht nur vorläufig? – ohne jenes säkularisiert-liberale Werte-Set auskommen, wie es den europäischen und anglo-amerikanischen Marktwirtschaften zugrundeliegt.

In der Sorge um die Dialogfähigkeit dieser verschiedenen Spielarten der Moderne gründet wohl auch die Initiative von Hans Küng und sein Versuch, einen „Weltethos“ als kleinsten gemeinsamen Nenner von Menschen aus verschiedensten kulturellen Herkünften zu etablieren. Es entsteht hier, so wie wir es vorhin für das sozial-marktwirtschaftliche System als konstitutiv erkannt haben, im Nebeneinander der Kulturen der Anspruch, bei voller Aufrechterhaltung des Werte-Pluralismus einige gemeinsame Spielregeln zu erarbeiten, in denen sich wiederum spontane Ordnungen so entfalten können, dass sie letztlich dem Gesamtwohl dienen.

Die Soziale Marktwirtschaft ist als gelungenes Modell einer „aufgeklärten Marktwirtschaft“ wohl in der Lage, in diesem Sinn zu der Weiterentwicklung der Globalisierungs-Qualität entscheidend beizutragen. Ihre Exponenten – und dazu gehören auch die bisher so abseits der Diskussion stehenden Verantwortungsträger in den Unternehmen – werden dazu ebenso beizutragen haben wie die bisher meist globophoben intellektuellen Eliten, die gerade in Europa nicht selten dem sozial-marktwirtschaftlichen Ordnungsmodell verständnislos begegnen.

Die Suche nach den besseren Spielregeln für die Globalisierung wird andererseits von den neoliberalen Markt-Universalisten oft als Bremse einer andernfalls ganz von selbst stattfindenden Weiterentwicklung empfunden. Das ist ein grundlegender Irrtum. Josef Schumpeter hat, als ihm Gegner sozialpolitischer Regelungen in den Zeiten des Laissez-faire-Liberalismus der Dreissigerjahre mit ähnlichen Argumenten kamen, das wunderbar treffende Bild von der Sozialpolitik als „Bremse“ gebraucht, mit der erst einmal ausgerüstet ein Auto viel schneller fahren kann als ohne sie.

Diese Bild lässt sich auf den heutigen Streit um die von Neo-Liberalen bestrittene Notwendigkeit neuer Spielregeln für die richtige Globalisierung übertragen: Auch hier wirken kluge Regeln nicht als Bremse, sondern in Wirklichkeit sogar als mögliche Beschleuniger eines sinnvollen Weges zu einem Mehr an sozial und ökologisch nachhaltiger Marktwirtschaft.

Von Peter Rosei stammt ein Stück wunderbarer Prosa mit dem visionären Titel „Entwurf für eine Welt ohne Menschen, Entwurf für eine Reise ohne Ziel“. Mich fasziniert an diesem weltflüchtigen, radikal-utopischen Titel, dass er uns wie eine paradoxe Intervention des Dichters daran erinnert, dass wir – und darum dreht sich die eigentliche Diskussion um Wirtschaft und Ethik – ganz im Gegenteil dazu bestimmt sind, Entwürfe für eine Welt mit Menschen zu entwickeln und unseren Reisen ein Ziel zu geben.

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