Jelinek Tagung

Finanzkunst in der Krise

 

Vortrag anlässlich der Tagung „Kunst und Kapitalismus“, erschienen im Jelinek-Jahrbuch 2011, S 227 ff.

„Finanzkunst in der Krise“: Diese Überschrift zu den folgenden Überlegungen über Ursachen und Wirkungen der Finanzmarktkrise stellt nicht nur eine inhaltliche Verbindung zum Tagungsthema „Kunst und Kapitalismus“ her. Sie beschreibt zugleich einen maßgeblichen Ursachen-Komplex der aktuellen Systemkrise: nämlich die gefährliche Abgehobenheit weiter Teile der – insbesondere angloamerikanisch geprägten – Finanzwirtschaft von den Bedürfnissen der Realwirtschaft.

Die Herausbildung immer artifiziellerer Geschäftsfelder und Finanzprodukte hat bei vielen „Finanzartisten“ dazu geführt, dass sie sich im Eigenbild als Angehörige einer geldschöpferischen, der Kunst der Geldvermehrung – eben der Finanzkunst – verschriebenen Elite sehen. Aus bloßen Kunsthandwerkern vermeintlich zu Künstlern geworden, auf die Theorie stets effizienter Märkte gestützt, maßten sie sich im Laufe der Zeit alle Freiheiten an, die in unserer Gesellschaft sonst nur der Kunst zukommen.

„Der Zeit ihre Finanzkunst, der Finanzkunst ihre Freiheit“: unter diesem gewissermaßen sezessionistischen Banner verbreiteten sie ihr Verständnis von ungezügelter Finanzmarktfreiheit. Die Beherrscher der Finanzkunst wurden selbst zu den Regelsetzern, die sich gegen jede Einmischung in ihr Spiel zur Wehr setzten.

„Business as usual“ oder Abschaffung der Gier

In den kommenden vierzig Minuten will ich skizzieren, welche Ursachenkette zur Krise geführt hat und welche Schlüsse wir aus der Analyse zu ziehen haben, um die Wiederkehr einer Krise ähnlichen Ausmaßes zu vermeiden.

Die gängige Erklärungsmuster sind Ihnen ja bekannt. Am einen Ende des Spektrums steht die Betriebsunfalls-Hypothese: Ja, es habe einzelne regulatorische Fehlentwicklungen gegeben, zu wenig Transparenz, zu niedrige Zinsen unter Alan Greenspan, aber auch verantwortungslos spekulierende Investmentbanker und immer undurchschaubarere Finanzinnovationen. Das müsse sich nun ändern – aber nicht zu stark, damit die Selbstheilungskräfte wieder wirken können, sobald sich der Patient von seinem Fast-Kollaps erholt hat. Nur nicht Marktversagen wieder gegen Staatsversagen tauschen! Zurück zum „business as usual“!

Noch mitten in den Turbulenzen des größten auszudenkenden Unfalls der jüngeren Finanzmarktgeschichte sehen sich marktorthodoxe Apologeten der reinen Lehre durch die aktuellen Entwicklungen sogar bestätigt. Schon wieder habe der Markt Recht, meinen sie – eben weil er die Bildung von spekulativen Blasen mit Preisverfall und Wertvernichtung bestraft. Das ist das Schöne an Tautologien: sie erklären einfach alles!

Am anderen Ende des Spektrums macht sich ein nicht minder problematisches, gegenteiliges Erklärungsmuster breit: das Problem soll durch die Bestrafung der Schuldigen und eine umfassende moralische Erneuerung gelöst werden.

Die Argumentation dazu lautet ungefähr so: wir verdanken die ganze Malaise geldgierigen, verantwortungslosen Bankern, geldgierigen, schlecht informierten Anlegern und überhaupt einer ganz allgemein bedauernswerten Tendenz zu schnödem Materialismus. Der Ausweg heißt Bestrafung der größten Spekulanten und ein kräftiges Mehr an verordneter Wirtschaftsethik und Appellen an Gierverzicht. Einzelne gehen über die an sich schon unbescheidene Forderung nach dem neuen Menschen noch hinaus und rufen überhaupt nach einer Welt ohne Geld.

Ich meine, dass wir uns mit keinem dieser Ansätze zufrieden geben dürfen, wenn wir mehr erreichen wollen als jenen Zustand, den Peter Sloterdijk einmal so trefflich als „Kollapsverzögerung in gierdynamischen Systemen“ bezeichnet hat. Denn weder eine bloße Symptomkur noch die Flucht in Schuld und Sühne führen zur Inangriffnahme grundsätzlicher Systemkorrekturen.

Schon gar nicht bringt uns voran, wenn wir in einer längst überholten ideologischen Dichotomie von Markt und Staat einmal Marktversagen und dann wieder Staatsversagen für die Krise verantwortlich machen. Für einen am Ordo-Liberalismus geschulten Nationalökonomen wie mich ist es selbsterklärend, dass die Krise nur mit einer Rückkehr des Politischen in die Ökonomie und durch konsequente Einbindung der Kräfte der globalen Finanzwirtschaft in ein stringentes System von Rahmenbedingungen zu überwinden sein wird.

Die Vorgeschichte: „New Economy“

Wer die Ursachen dieser Finanzmarktkrise verstehen will, braucht dazu ein klares Bild von ihrem Verlauf. Ihre innere Dramaturgie beginnt schon zur Mitte der Achtzigerjahre: damals begann die durchaus überfällige Liberalisierung der Kapitalmärkte ein. Ein Experiment auf kleiner Flamme zunächst, von dem niemand ahnte, zu welchen Weiterungen es einmal führen würde.

Als sich dann 1989 die andere Hälfte der Welt, über Jahrzehnte durch ein gegenläufiges Wirtschaftsdogma und einen langen kalten Krieg getrennt, überraschend öffnete, setzte ein umfassender Aufbruch zu neuen Wachstums-Ufern ein. Globalisierung ließ sich ganz einfach mit den drei „G“´s erklären: Grenzenlosigkeit im wirtschaftlichen Wettbewerb, Gleichzeitigkeit der Information und Geschwindigkeit der Datenverarbeitung.

Die herrschende Aufbruchsstimmung verstärkte sich durch das Gelingen der Erweiterung der Europäischen Union und der Gemeinschaftswährung Euro. Sie verleitete aber auch zu übertriebener Euphorie. Warnungen vor unerwünschten Wirkungen und Nebenwirkungen einer überhasteten Liberalisierung der Finanzmärkte blieben deshalb entweder aus – oder sie wurden als Minderheitenmeinung von „Bedenkenträgern“ angesehen und in den Wind geschlagen.

Schließlich gab es ja eine Ausgangslage, bei der alles anders schien als bisher, gesellte sich doch zu den beinahe unlimitierten Wachstumsmöglichkeiten in den sogenannten „Emerging Markets“ eine von revolutionären Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnik getriebene Sonderkonjunktur, die gegen Ende der Neunzigerjahre eine „New Economy“ hervorzubringen schien.

Als im Frühsommer 2000 die überzogenen Erwartungen enttäuscht wurden und die Internet-Bubble platzte, verschwand das für einige Jahre so attraktive Begriffspaar „New Economy“ wieder aus unserem Wortschatz. Niemals zuvor oder danach – nicht einmal vor der aktuellen Finanzkrise – waren die Kurs-/Gewinn-Verhältnisse so außer Rand und Band geraten wie damals.

Als es Alan Greenspan mit seiner Niedrigzinspolitik gelang, den befürchteten Konjunktureinbruch und die ökonomischen Folgen von „Nine-Eleven“ abzufangen, machte sich rasch wieder eine optimistische Sicht in Bezug auf die Beherrschbarkeit von Krisen breit. Die Notenbanken waren stolz darauf, die Inflation zu beherrschen und fühlten sich mit ihrem geldpolitischen Instrumentarium steuerungsmächtig genug, um auch große Krisen abzufangen. Auch die noch junge EZB schien erfolgreich in ihrem Bemühen, die Inflationsrate unter der Zielgröße von 2 Prozent zu halten.

Heute wissen wir: immer dann, wenn alle davon überzeugt sind, dass „diesmal alles anders“ ist, wird es gefährlich. Denn was den Notenbanken und den Finanzmarktaufsehern der Welt verborgen blieb, war die Tatsache, dass sich während dieser Jahre – sozusagen hinter ihrem Rücken – eine „Asset-Inflation“ nie gekannten Ausmaßes aufbaute. Alle Maßstäbe klassischer, kontrollierter Geldschöpfung wurden durch Mechanismen außer Kraft gesetzt, die es dem Banksystem gestatteten, selbst – ohne jeden realwirtschaftlichen Rückhalt – zum größten Geldschöpfer zu werden.

Ein wenig beachtetes Signal dafür war der überproportional steigende Anteil der Finanzwirtschaft an der gesamten Wertschöpfung der US-Ökonomie von nur 4 Prozent zu Anfang der Achtzigerjahre auf mehr als 40 Prozent zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts.

Dennoch schuf der Anschein der Steuerbarkeit der Konjunktur über den Leitzins ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Die „New Economy“-Krise ließ sich letztlich doch wieder als eine der vielen, in der Geschichte der Kapitalmärkte (un)regelmäßig auftauchenden Spekulationskrisen abhaken.

Auch heute fehlt es nicht an Versuchen, die aktuelle Finanzkrise auf einen solchen – wenn auch diesmal besonders großen – „Betriebsunfall“ des Finanzsystems zurückzustufen und möglichst rasch wieder zum vermeintlichen Normalbetrieb überzugehen. Ich halte das schon deshalb für gefährlich, weil wir uns die Reparaturkosten für eine weitere Krise vergleichbarer Dimension schlicht und einfach nicht mehr leisten können. An fundamentalen Systemreparaturen und an der Korrektur einer ganzen Reihe von kollektiven Irrtümern führt diesmal kein Weg vorbei

„Clash of Cultures“: Finanzierungskulturen im Konflikt

In dieser Krise haben sich die starken Spannungen zwischen den bankenorientierten, am Vorsichtsprinzip ausgerichteten Finanzierungstraditionen Kontinentaleuropas und den kapitalmarktorientierten, am Shareholder-Value ausgerichteten Spielregeln des angloamerikanischen Raumes entladen. Werfen wir einen etwas näheren Blick auf die Bauprinzipien der einander in einem „Clash of Cultures“ begegnenden Finanzmarktarchitekturen:

Europas Finanzsystem beruht traditionellerweise auf einer engen Verflechtung von Realwirtschaft und Banken. Die Bilanzen der Banken spiegeln die gesamtwirtschaftliche Dynamik wider, ihre Kernaufgaben erfüllen sie als Dienstleister von Anlegern/Sparern und Kreditnehmern/Unternehmen. Demnach handelt es sich um ein Banksystem, das er Realwirtschaft dient.

Im Gegensatz dazu ist das angloamerikanische Bankensystem deutlich stärker an Kapitalmärkten orientiert. Die Umwandlung von Anlegergeldern in Ausleihungen spielt sich überwiegend außerhalb der Bilanz von Banken über Aktien und Anleihen ab. Der Vorteil kapitalmarktorientierter Systeme liegt darin, dass sie Unternehmen bei der Aufbringung von Eigenkapital etwa über Aktienemissionen unterstützen können. In Kombination mit vorbörslichen Risiko-Kapitalmärkten für Venture Capital und Private Equity bietet das die Gewähr für eine ausreichende Versorgung der Unternehmen mit Expansionskapital.

Europas Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik übernahmen ab Mitte der Neunzigerjahre weitgehend kritiklos den angloamerikanischen Ansatz, im offensichtlichen Irrglauben, man könne an die Vorteile der Kapitalmärkte nur dann herankommen, wenn zugleich das Dogma der allzeitigen Markteffizienz und der grundsätzlichen Kontraproduktivität ordnender Eingriffe in die Rahmenbedingungen uneingeschränkt akzeptiert würde. Geradezu euphorisch wurde jeder Schritt in Richtung „Entfesselung“ von lästigen Regeln nachvollzogen:

  • Das dem Gläubigerschutz und dem Vorsichtsprinzip verpflichtete, traditionelle Bilanzierungssystem wurde durch internationale Bilanzierungsregeln (IFRS) ersetzt, in denen die wichtigsten Vermögenspositionen schwankenden Marktwerten unterworfen wurden. Die neue Bilanzierungsform begünstigte in guten Zeiten Wert-Übertreibungen und verstärkte in Zeiten der Abwärtsbewegung prozyklisch negative Trends. Die Schaffung von Schein-Eigenmitteln im Aufschwung förderte die ungehemmte Kredit-Expansion durch das Bankensystem.

  • Das eigentlich zur Stabilisierung des Systems gedachte Regulierungswerk von „Basel II“ leistete mit der Möglichkeit einer „risikogewichteten“ Unterlegung von Ausleihungen mit Eigenkapital entlang von Rating-Bewertungen der Ausdünnung der „echten“ Eigenmittel weiteren Vorschub.

  • Manager wurden nicht mehr an nachhaltigen Resultaten sondern am Börsenkurs gemessen und nützten daher die neuen Möglichkeiten kreativer Bilanzierung bis zum Exzess.

  • Während das traditionelle Bankgeschäft penibel durchleuchtet wurde, wuchs das Volumen auf den nicht-regulierten Märkten der sogenannten „synthetischen“ Wertpapiere ungebremst. Eine der typischen Ausprägungen waren die in Anleihen gebündelten „Sub-Prime“-Ausleihungen an schlechte Schuldner. Das Vertrauen in die von Rating-Agenturen für solche Wertpapier-Konstruktionen vergebenen Bonitätsnoten war grenzenlos. Niemand stellte die Frage, ob die Refinanzierung dieser auf kurzfristige Kapitalmarktmittel angewiesenen Sondermärkte eines Tages gefährdet sein könnten.

Mit der Insolvenz von Lehman am 15.September 2008 stürzten die überhastet geplanten Neubauten dieser – wie wir heute wissen – unsoliden, an der Scheinobjektivität von Marktwerten und Rating-Einschätzungen orientierten Finanzmarkt-Architektur in sich zusammen. Das über Jahre hinweg scheinbar über die Maßen erfolgreiche Finanzsystem wurde durch seine kontraproduktiven Spielregeln plötzlich zu einer massiven Gefahr für Unternehmen und Gesellschaft.

Am Abend eben jenes 15.September erzielte übrigens der britische Künstler Damian Hirst mit seinem in Kunstharz gegossenen „Goldenen Kalb“ einen Rekord-Auktionspreis von 10,5 Mio Pfund. Wir werden wohl nie erfahren, ob das purer Zufall war oder ein ironischer Einfall der für den Finanzmarkt zuständigen Götter. Zwei Jahre danach, im September 2010, gelangten im selben Auktionshaus wie damals die Kunstwerke aus der Moderne-Sammlung des insolventen Bankhauses Lehman zur Versteigerung. Darunter befand sich auch ein Werk von Damian Hirst, für das sich diesmal jedoch kein Käufer fand. Wer will, kann darin eine Variation zum Thema „Finanzkunst in der Krise“ sehen.

Ein anderer Börsenkrach – mit vergleichbaren Ursachen

In der Geschichte der Finanzkrisen spielte übrigens der Wiener Börsenkrach im Jahr 1873 eine wichtige Rolle. Der Bauboom rund um die Errichtung der Ringstraße 1866 und die Vorbereitungen für die Weltausstellung ließen die Spekulation in Bankaktien, Eisenbahngesellschaften und Immobilien blühen. Auch damals kam es vor dem Zusammenbruch zu extremen Kreditausweitungen und dem Einsatz von durch Kredite „gehebelten“ Finanzinstrumenten. Die Folgen des Kurssturzes und der nachfolgenden Konjunkturkrise waren über 20 Jahre lang spürbar.

Auffallend ist, dass die Entstehung des Börsenkrachs der sogenannten Gründerzeit vor allem durch die damals geltenden, kapitalmarktorientierten Bilanzierungsregeln begünstigt wurde – eine verblüffende Analogie zur aktuellen Finanzkrise. Schon in der Gründerzeit wurden demnach Vermögenswerte in Österreich mit ihrem Zeitwert erfasst. Noch nicht realisierte Wertsteigerungen konnten erfolgswirksam verbucht werden und führten zu prozyklischen Überbewertungen im Aufschwung – aber auch gegenläufigen Radikalabwertungen im Abschwung.

Die damalige Reaktion des Gesetzgebers folgte auf dem Fuß. Schon ein Jahr nach dem Börsenkrach wurden in Deutschland und Österreich die offensichtlich kontraproduktiven Bilanzierungsvorschriften dem Vorsichtsprinzip gemäß geändert. Bis heute kennt unser Bilanzsystem das Niedrigstwertprinzip und das Realisationsprinzip – was nichts anderes heißt, als dass erhöhte Vermögenswerte erst bei deren Realisierung als Wertsteigerung verbuchbar sind. Zwischenzeitlich Abwertungen hingegen müssen laufend berücksichtigt werden.

Ganz anders in den internationalen, kapitalmarktorientierten Bilanzierungssystemen. Weil den Shareholdern erhöhte Werte nicht verborgen bleiben wollen, ist eine vorsichtige Bewertungsmethode unerwünscht. Alle Unternehmen haben sich permanent auf der Waage der Marktwerte zu messen. Da diese Marktwerte in der reinen Kapitalmarkttheorie immer die wahren Werte widerspiegeln, muss eine danach gestaltete Bilanz der jeweiligen Wahrheit des Augenblicks am besten entsprechen.

Im Aufschwung ab 2002 trieb die verstärkte Nachfrage nach bestimmten Assets die Bewertungsniveaus nach oben. Jede Werterhöhung führte zu einer sofortigen, allerdings nur scheinbaren, Erhöhung des Eigenkapitals. Das erhöhte die Verschuldungskapazität der Banken und trieb die Geldmenge nach oben.

Basel II: Ein Regulierungssystem als Auslöser der Krise

Dazu kam das verfehlte Regulierungssystem von Basel II. Der Ausschuss für Bankenaufsicht in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) mit Sitz in Basel hatte erstmals 1988 eine Mindestausstattung der Banken mit Eigenkapital vorgesehen. Ein überarbeitetes Regelwerk – eben „Basel II“ – trat 2007 in Kraft und sah vor, dass in Hinkunft überall dort weniger Eigenkapital vorgehalten werden muss, wo durch Ratings die erstklassige Bonität einer Ausleihung bestätigt werden kann.

Diese sogenannte „Risikogewichtung“ erwies sich als fataler Konstruktionsfehler. Schon die Aussicht darauf, bald bei allen besser gerateten Risiken mit Eigenmitteln auszukommen, wirkte wie süßes Gift. Der Boom der sogenannten „synthetischen“ oder „strukturierten“ Wertpapiere (Asset backed securities, darunter auch die „Subprime“-Papiere) wurde dadurch entscheidend verstärkt.

Für Banken mit (regulatorisch) ausreichendem Eigenkapital, die unter dem Druck der Kapitalmärkte standen, ihren Return on Equity zu maximieren, gab es allem Anschein nach keinen besseren Weg, über ihren Ursprungsmarkt hinauszuwachsen, als schrittweise in die Märkte der synthetischen Wertpapiere zu expandieren. Immer sophistiziertere Konstruktionen einer gewissermaßen an die Spitze getriebenen, von mathematischen Modellen unterstützten „Finanzkunst“ führten zu einer fast unübersehbaren Vielfalt von Ausformungen synthetischer Wertpapiere, die fast alle auf die „Optimierung“ der regulatorischen Situation abzielten.

Am Ende stellte sich fast die gesamte, lange als pionierhafte Finanzinnovation angesehene Produktkategorie der Verbriefung von Schuldtiteln als Todesstoß für das ohnehin spekulativ überreizte System heraus. Am Gift dieser bald als „toxisch“ bezeichneten Papiere leiden viele Großbanken der Welt bis heute.

Der Großteil der einschlägigen Produkte entstand in den USA. Mehr als die Hälfte davon wurden von dort in die internationalen Märkte verkauft – vorzugsweise an Europa und die vor Überschussliquidität strotzenden ölexportierenden Länder. Der Internationale Währungsfonds schätzt den Schaden aus toxischen Papieren, der allein westeuropäischen Banken entstanden ist, auf mehr als 1,5 Billionen Dollar. Bis Ende 2010 entsprach das etwa 50 Prozent des gesamten Eigenkapitals des Europäischen Bankensystems.

Es kam zu immer höherer Verschuldung der Banken bei gleichzeitigem Ausweis regulatorisch ausreichenden Eigenkapitals. Als Folge davon lag der durchschnittliche Fremdmittelhebel („Leverage“) europäischer Großbanken unmittelbar vor Ausbruch der Krise bei 35. Anders ausgedrückt: das „echte“ Eigenkapital machte kaum mehr als 3 Prozent der Bilanzsumme aus.

In der Krise kippte dann die Aufwärts-Dynamik ins Gegenteil und setzte eine Abwärtsspirale in Gang. Denn in seiner blinden Rating-Gläubigkeit und der prozyklischen Logik folgend, fordert das System bei einer Rating-Verschlechterung der Kreditbestände („rating-shift“) zusätzliche Eigenmittel. Da diese in einer Krisensituation kaum erhältlich waren, verknappten die Banken ihre Kreditvergaben. Jede Verschlechterung der Lage der Realwirtschaft verstärkte in der Folge die Bewegung weiter nach unten. Während Basel I noch die Bildung von Risikoreserven erlaubt hatte, ging es nun ohne jeden Krisenpuffer auf den Abgrund zu.

„Shareholder-Value“ und die Schaffung von Schein-Werten

Mittlerweile wurde in Studien nachgewiesen, dass besonders aktionärsfreundliche Bankinstitute überdurchschnittlich viele Wertpapiere abschreiben mussten und größere Kurseinbrüche aufwiesen. Vor allem aber: je enger das Gehalt eines Bankchefs an die Interessen der Aktionäre gekoppelt war, desto heftiger stürzte das von ihm geleitete Institut in der Krise ab.

Hinter dem selbstbewusst vorgetragenen Anspruch der Banken- und Finanzbranche, die bestbezahlten Manager und Mitarbeiter zu haben, steht ja der Anspruch, dort würde die höchste Wertschöpfung erzielt. In Wirklichkeit spiegelten jedoch die überproportional steigenden Gewinne der Finanzwirtschaft nicht etwa ebenso positive Entwicklungen der Realwirtschaft wieder, sondern waren überwiegend das Resultat meist hoch spekulativer Finanztransaktionen.

Ganz deutlich zeigt sich das in der kumulativen Betrachtung der Wertentwicklung am US-Markt zwischen 2000 und 2009: sämtliche in der Phase des Aufschwungs in der Finanzwirtschaft aufgebauten „Werte“ wurden mit der Finanzmarktkrise wieder vernichtet.

Offensichtlich gab es in den Jahren davor aus dem Finanzsystem keine reelle Wertschöpfung, sondern lediglich eine durch die prozyklischen Auftriebskräfte herbeigeführte Serie von Augenblickserfolgen. Diese verdankten sich vor allem der Ausweitung der Verschuldungsspielräume und einer extremen Expansion neuen, durch Kredite geschaffenen Buchgeldes.

Fehlsteuerung durch kapitalmarktorientierte „Incentive“-Systeme

Wertschöpfung, die den Namen verdient, kann in der Finanzwirtschaft nur in jenen Geschäftsbereichen entstehen, in denen sie ihre Funktionen für Unternehmen und Haushalte durch Risikoübernahme und entsprechende Dienstleistungen erfüllt. Der entsprechende Ertrag unterliegt in der Regel keinen großen Schwankungen und schwankt im Wesentlichen mit den Veränderungen der Realwirtschaft. Eine darüber hinausgehende Wertschöpfung, die nur auf exzessiver, vorübergehend erhöhter Geldschöpfung beruht, sollte daher nicht mit außergewöhnlich hohen Gehältern und Boni belohnt werden.

Die „Incentive“-Systeme für Bankmanager steigerten die gefährlichen Effekte einer durch prozyklisch wirkende Spielregeln geförderten Geldmengenvermehrung, indem sie den Maßstab der Verzinsung des Eigenkapitals („Return on Equity“/ROE) über alles stellten. Diese Kennzahl fällt umso höher aus, je niedriger im Vergleich zu den Fremdmitteln das eingesetzte Eigenkapital ist.

Nobelpreisträger Joseph Stiglitz stellte in einer Ursachenanalyse der Finanzkrise die fehlgeleiteten Incentive-Systeme sogar an die Spitze der auslösenden Probleme. Sie hätten in Verbindung mit den Bilanzierungsregeln dazu verleitet, Erträge in der Gewinn- und Verlustrechnung wohl auszuweisen, Risiken jedoch kleinzurechnen oder – gemeint sind Kreditgarantien – gar unterhalb der Bilanz auszuweisen.

Dennoch meine ich, dass diese Erklärung keine Antwort auf die Frage nach dem Ausweg aus der Krise bringt. Die Summe der schlechten Eigenschaften aller Finanzmanager und Anleger würde nicht ausreichen, um damit das Finanzmarktdesaster zu erklären. Denn die ganz große Mehrzahl der Finanzprofis, Kommunikationsspezialisten, Rechtsexperten, Bilanzprüfer, Regulatoren und in der Politik Tätigen hat sich darum bemüht, im Jahrzehnt der Kapitalmarktorientierung einen anständigen Job zu machen.

Gelernt hatten sie das an Hochschulen von Professoren, die an kapitalmarktorientierte Bilanzen und Regulierungen glaubten, gehandelt haben sie nach Theorien von bestechender, mehrfach Nobelpreis-gewürdigter Eleganz, unter dem Applaus der Medien, mit dem Segen der Wirtschaftsforschungsinstitute, unter den Auspizien strenger Aufsichtsbehörden und Notenbanken.

Auf der Suche nach einem neuem Finanzmarkt-Paradigma

Geeignete Auswege müssen auf einer übergeordneten, systemischen Ebene gefunden werden. Tiefgreifende Korrekturen werden nur dann durchsetzbar sein, wenn auch eine Neuorientierung jener wirtschaftstheoretischen Mainstream-Konzepte in Gang kommt, die dem Bau von Einbahnstraßen in die Finanzmarktkrise zugrundegelegen sind.

In den Methoden und Modellen der Makro-Ökonomie kommen Banken und damit das Finanzsystem bis heute gar nicht oder nur ganz am Rande vor. Selbst das volkswirtschaftliche Modell der Bank of England klammert Finanzintermediäre – also Banken und andere Kapitalsammelstellen – explizit aus. Im „Beipackzettel“ liest sich das dann so: „The model is not, therefore, directly useful for issues where financial intermediation is of first-order importance“, mit anderen Worten: es kann zur Erklärung der Finanzkrise nichts beitragen.

Ausgeklammert bleibt damit auch das gesamte Feld der finanzwirtschaftlichen Phänomene – vom irrationalen Überschwang („irrational exuberance“) über die Reflexivität des Marktverhaltens bis zur prozyklischen Kapitalaushöhlung.

Zwar gibt es Randfächer der Ökonomie, in denen die neuen Wirklichkeiten wichtige Nischenplätze erobern konnten, wie etwa die „Behavioral Finance“.

In diesem verhaltenswissenschaftlich orientierten Fach werden jene menschlichen Handlungsmuster in wirtschaftlichen Entscheidungssituationen untersucht, die über das vorherrschende Modell des stets rational handelnden „homo oeconomicus“ hinausgehen. Opportunismus, Machtstreben, Nachahmung oder auch Herdentrieb finden so Eingang in finanzwissenschaftliche Modelle. Aber nur in Ausnahmefällen schaffen es die dort gewonnen Erkenntnisse in die heiligen Hallen der Reinen Theorie vom allzeit effizienten Markt.

Natürlich ist der auch der „homo oeconomicus“ ein Missverständnis, ein Homunkulus der Mikroökonomie, eine modellhafte Gedankenbrücke zu unserem Wissen über Nutzenmaximierung, Preisbildung und den abnehmenden Grenznutzen. Allerdings wurde mit der Zeit die modelltheoretische Vereinfachung für die Wirklichkeit als Ganze genommen. Und so entwickelte sich aus der Annahme, rationale Nutzenmaximierung sei ein ökonomisches Generalrezept, der fatale Irrglaube, das Modell einer perfekten Marktökonomie sei auch ein gesellschaftspolitisches Idealbild, dem man nur hinreichend nacheifern müsse, um die Welt zu verbessern.

Das Ausblenden wesentlicher, für das Verstehen der Funktionsweise von Finanzmärkten unverzichtbarer Wirklichkeiten, begründet die verführerische Ästhetik der ökonomischen Modelle begründet. Mit immer feineren Algorithmen wird darin – unter Ausblendung störender Abweichungen – nachgewiesen, dass sich zu jeder Zeit wegen der angenommenen Vollständigkeit der Information aller Marktteilnehmer „richtige“ Preise für jegliches Wirtschaftsgut, also auch für Finanzmarktprodukte, herausbilden. Paul Krugman meinte dazu in jener Ironie, die ihm einen Nobelpreis einbrachte, der wohl nicht nur seiner theoretischen, sondern auch seiner wirtschaftspublizistischen Leistung galt: “Economists as a group mistook the beauty of impressive-looking mathematics for truth”.

Seit 2000 gibt es in Frankreich eine mittlerweile auch in Deutschland in Gang kommende Gruppe von Forschern, die sich als „post-autistische“ Ökonomen definieren. Sie setzen sich für eine Einbindung der Wirtschaftswissenschaft in die Gesellschaftswissenschaften ein, für interdisziplinäre Forschung gemeinsam mit Disziplinen wie Psychologie, Philosophie oder auch den Naturwissenschaften, insbesondere der Ökologie im Zusammenhang mit Fragen nach den Grenzen des Wachstums. Längst sind sie mit ihrem Weckruf für eine grundlegende Erneuerung der Finanzmarktökonomie nicht mehr alleine.

Woher soll Orientierung kommen? Von Carl Friedrich von Weizsäcker stammt die Beobachtung, dass die jeweils geltende, „normale“ Wissenschaft meist über längere Zeit mit einem Paradigma arbeitet, dessen letzte Rechtfertigung sie selbst nicht kennt und nicht befragt, solange es den Kredit des Erfolges genießt. Erst mit wachsenden Schwierigkeiten des geltenden Paradigmas und damit einhergehender Krisenerfahrung bereiteten sich wissenschaftliche Revolutionen vor. In solchen Situationen helfe dann nicht mehr beschönigender Optimismus, sondern nur das Nachdenken darüber, durch welche neue Theorie die Selbstwidersprüche der alten aufgehoben werden können.

Es steht wohl außer Zweifel, dass das bisher vorherrschende Paradigma der Finanzwissenschaft seinen Kredit in der Krise tatsächlich eingebüßt hat. Die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Revolution im Sinne von Thomas S.Kuhn sind damit gegeben. Viele der bis zum Ausbruch der Krise im Rang von Glaubenssätzen stehenden Spielregeln der Finanzwirtschaft müssen neu geschrieben werden.

Das Ende der „Finanzkunst“: ein Finanzsystem, das der Realwirtschaft dient

„Make banking boring“ – macht das Bankgeschäft wieder langweilig, meinte erst kürzlich Paul Krugman. Und tatsächlich wird es darum gehen, die Finanzwirtschaft wieder zuerst und vor allem zu einem Dienstleister der Realwirtschaft zu machen. Das ist nicht spektakulär, da lassen sich keine Pirouetten drehen, da gibt es nur mehr wenige Finanzinnovationen, das ist vielleicht sogar das Ende der „Finanzkunst“.

Wir müssen es aber nicht bedauern, wenn das Finanzgeschäft der Zukunft weniger künstlich sein wird. Die ratlosen Artisten unter der Zirkuskuppel – um das Bild von Alexander Kluge zu zitieren – können uns nicht mehr unterhalten. Im Gegenteil: es wäre uns viel erspart geblieben, hätte es keine Blütezeit der „Finanzkunst“ gegeben.

Der Weg aus der Krise wird deshalb mit weitgehenden Einschränkungen überzogener Finanzfreiheit verbunden sein müssen – zugunsten einer Bankwirtschaft, die Unternehmen und Anleger bei der Hervorbringung von Wertschöpfung unterstützt, statt sich in unkontrollierte Geldschöpfung zu verlieren.

Dem neuen Kontrakt unserer Gesellschaft mit einer Finanzwirtschaft, die wieder der Realwirtschaft dient, könnten die Grundsätze des ordentlichen Kaufmannes Pate stehen, wie sie Thomas Mann den alten Buddenbrook formulieren ließ: „Mein Sohn, sei mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können“.

 

download

Zurück zur Übersichtsseite