die Furche - 344

Über einen zinspolitischen Balanceakt

Weil die aktuelle Weltlage keine verlässlichen Prognosen zulässt, steht die EZB bei ihren Zinsent-scheidungen vor einem wahrhaftigen Multilemma.

In der Management-Sprache verwendet man gerne den Begriff „Disruption“ für durch technische Innovationen herbeigeführte Trendbrüche innerhalb ansonsten weitgehend stabiler Rahmenbedingungen. Die dadurch ausgelösten Vorgänge beschrieb Josef Schumpeter einst als „schöpferische Zerstörung“. Mit Strukturbrüchen ganz anderer Art haben wir es in der aktuellen Situation zu tun. Multikausale externe Schocks drohen die Akteure in Wirtschaft und Politik zu überfordern und sorgten auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos für eine gewisse Sprach- und Ratlosigkeit. Dessen Präsident Börg Brende war deshalb mit einer so nüchternen wie ironischen Lageeinschätzung um verbalen Trost bemüht: „Es geht uns schlechter als letztes Jahr, aber besser als im nächsten Jahr“.

Ein höheres Maß an Prognosegenauigkeit ist derzeit eben nicht zu erwarten. Denn eine seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wieder militärisch dominierte Geopolitik ist dabei, den mit der Globalisierung verbundenen Zuwachs an weltweiter Wertschöpfung abrupt zu stoppen. In unheilvoller Verknüpfung mit Spätfolgen der Coronakrise, Lieferkettenproblemen und Verwerfungen des Finanzsystems kommt es zu zeitgleichen, sich gegenseitig hochschaukelnden, negativen Folgeerscheinungen. Massive, wohl nicht nur kurzfristige Preissteigerungen sowie Energie- und Rohstoffengpässe gefährden die wirtschaftliche Stabilität und gewohnte soziale Standards.  Vorhersehbar ist das wenigste davon, Fahren auf Sicht ist angesagt, die Prognosen von heute sind bis auf weiteres die Fehlprognosen von morgen.

Noch bis zum Ende vergangenen Jahres gingen die meisten ÖkonomInnen davon aus, die stark angestiegenen Preisniveaus wären nur vorübergehender Natur. Seit der Ukraine-Invasion jedoch beschleunigt sich die Geldentwertung in Europa auf zuletzt durchschnittlich 7,4 Prozent. Nun konzentrieren sich alle Hoffnungen auf baldige Zinsanhebungen durch die EZB. Sie hat sich seit der Finanzkrise über die Euro-Staatsschuldenkrise bis zur Coronakrise einen so unverrückbaren Ruf als Retter in der Not erworben, dass von ihr auch diesmal viel erwartet wird. Vermutlich sogar zu viel.

Wenn es nämlich vor allem höhere Energiekosten und eine von Rohstoffknappheit und Lieferproblemen verursachte Angebotsknappheit sind, die die Geldentwertung befeuern, lässt sich diese nicht einfach durch Zinssteigerungen abfangen. So sehr man der EZB vorwerfen kann, die Normalisierung der Zinsen hinausgezögert zu haben, so sehr muss klar sein, dass sie mit allzu hohen Steigerungen einen Konjunktureinbruch herbeiführen würde. Die nun zu erwartenden, schrittweisen Erhöhungsschritte in Richtung 1,5 Prozent werden jedenfalls nicht ausreichen, um den Schmerz der SparerInnen deutlich zu lindern.

Ein Multilemma, fürwahr. Denn zugleich gilt es, die krisenbedingt angestiegenen Staatsschulden beherrschbar zu halten, sind doch schon jetzt die Kosten für Staatsanleihen höher verschuldeter Euroländer deutlich angestiegen. Möge dieser zinspolitische Balanceakt gelingen! 

02. Juni 2022

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