die furche - 342

Und wieder pausiert der Weltgeist

Die Ereignisse in der Ukraine erinnern an die Dringlichkeit, aber auch an die Vergeblichkeit des Atomwaffen-verbots-Vertrages.

Das kriegsverbrecherische Vorgehen Putins gegen die Ukraine ist nicht nur menschenverachtend. Mit der unverhohlenen Drohung des möglichen Einsatzes atomarer Waffen eskaliert es zur Menschheits-Verachtung.

Gleich zu Beginn des Überfalls führten erste Drohgebärden mit atomaren Schlägen gegen die angeblich aggressive NATO-Expansion zu der erwünschten Lähmung militärischer Hilfeleistungen durch westliche Staaten. Als diese dann schrittweise doch in Gang kamen und dazu beitrugen, dass der ukrainische Widerstand wesentlich nachhaltiger ausfiel als ursprünglich erwartet, folgte mit dem Test einer russischen Interkontinentalrakete eine nächste, wesentlich massivere atomare Drohgebärde – im Wissen darum, dass die USA eben erst einen schon länger geplanten eigenen Raketen-Testflug mit Rücksicht auf den Ukraine-Krieg abgesagt hatten.

Der neuartige russische Raketentyp stellt mit einer Reichweite von mehr als 15.000 Kilometer und einer Tragkraft von bis zu zehn großen Atombomben eine obszöne Bedrohungskulisse dar. Sein Probestart mitten im Krieg macht deutlich, dass eine den Ereignissen in der Schweinebucht von Kuba vor sechzig Jahren vergleichbare Gefahrenlage nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Damals bewahrte der sowjetische U-Bott-Flottenkommandant Wassili Archipow die Welt vor einem Atomkrieg, als er den bereits befohlenen Abschuss eines Torpedos mit atomarem Sprengkopf verweigerte. Seine mit keinem Friedensnobelpreis belohnte Heldentat wurde erst 2002, vierzig Jahre nach dem Vorfall und vier Jahre nach seinem Tod, bekannt.

An eben dieses schicksalhafte Geschehen erinnerten aus gegebenem Anlass die dem Nachhaltigkeits-Rat der Vereinten Nationen angehörenden WissenschaftlerInnen in einem flammenden Appell an alle Regierenden, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um Verhandlungslösungen statt Gewaltlösungen zum Durchbruch zu verhelfen. Federführend für diese Initiative ist Jeffrey Sachs, einflussreicher Global-Ökonom und Autor der UN-Development-Goals. In der aktuellen Situation der extremen weltpolitischen Zuspitzung fand die engagierte Streitschrift allerdings wenig Widerhall.

Noch zu Beginn vergangenen Jahres verstörte ein Film des österreichischen Außenministeriums, der aus Anlass des Inkrafttretens des Atomwaffenverbots-Vertrages eine fiktive atomare Bedrohung Wiens zeigte. Dass die mit einer solchen Dystopie verbundenen Ängste mit einem Mal nicht mehr ganz weggeschoben werden können, ist bestürzend. Die Mitte Juni hier in Österreich stattfindende Tagung aller 86 Staaten, die den Vertrag unterzeichnet haben, gewinnt nun eine überraschende Dringlichkeit. Vertreter der Atommächte werden daran allerdings voraussichtlich nicht teilnehmen. 

Müssen wir uns damit abfinden, dass der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschworene „Weltgeist“ auf seiner schon so oft durch kriegerische Ereignisse unterbrochenen Reise ins Zeitalter der „Vernunft der Geschichte“ wieder einmal eine seiner verhängnisvollen Pausen einlegt?

05. Mai 2022

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