die furche - 329

Das verschobene Koordinatensystem des Euro

Nach all den krisenbedingten Notmaßnahmen der EZB muss deren Koordinatensystem nun ganz neu justiert werden.

So schnell kann es gehen. Vor gut drei Monaten erst hatte die Europäische Zentralbank (EZB) eine umfassende Erklärung zu ihrer erstmals seit 2003 offiziell überarbeiteten geldpolitischen Strategie veröffentlicht und versprochen, diese regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Eine nächste Bewertung sei 2025 zu erwarten, hieß es.

Nun aber wurde diese Strategie bereits innerhalb weniger Wochen durch die rasante Entwicklung der Inflation von der Realität überholt. Mit über 3,5 Prozent überschreitet die Geldentwertung im Euroraum den einvernehmlichen Zielwert von 2 Prozent um beinahe das Doppelte. Und auch wenn die Rohstoff-Preissprünge nach überstandener Covid-Krise vorübergehender Natur sein mögen, erzeugen doch die steigenden Preisniveaus eine Erwartungsspirale, die auch auf das Lohngefüge einwirkt. Überdies dräuen am Horizont gefährliche Wolken einer mit ansteigender Inflation gekoppelten Konjunkturschwäche („Stagflation“), die von Problemen in den Zuliefer-Ketten von Computer-Chips und anderen wichtigen Vorprodukten ausgelöst wird.

Die EZB wird sich daher in einem Jahr, in dem in Deutschland und Frankreich neue Regierungsspitzen in die Verantwortung kommen, für eine neue Strategie entscheiden müssen. Spätestens wenn im März 2022 das nicht weniger als 1,85 Billionen Euro umfassende Corona-Anleihe-Ankaufsprogramm „PEPP“ offiziell ausläuft, wird überdies zu klären sein, ob und in welchem Umfang die großvolumige Ankaufspolitik fortgesetzt werden soll. Da deren eigentliche Funktion seit geraumer Zeit nicht mehr in der Akut-Hilfe gegen die Krise, sondern in der Sicherstellung des Zusammenhalts der Eurozone liegt, wird man hier wohl sehr flexibel vorgehen müssen. Ebenso offen ist der Zeitpunkt des Abrückens von der Politik extrem niedriger Zinsen, die in Zeiten wachsender Geldentwertung Schuldner entlasten und Anlegern Sorgen machen.

Es war vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, dass Jens Weidmann in der vergangenen Woche seinen Rückzug aus der Funktion des Präsidenten der deutschen Bundesbank bekanntgab. Er wollte angesichts der bevorstehenden Weichenstellungen wohl nicht länger das Image-Joch des Hardliners und Mahners vor allzu lockerer Geldpolitik tragen. In seinem offiziellen Abschiedsschreiben weist er denn auch darauf hin, dass die geldpolitischen Notmaßnahmen der letzten Jahre „mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden waren und im andauernden Krisenmodus das Koordinatensystem der Geldpolitik verschoben haben.“ Die Aufgabe, dieses Koordinatensystem wieder neu zu justieren, wird nun jemand Neuer zu übernehmen haben.

Es geht um nichts geringeres als die Zukunft des Euro und neue Spielregeln für die Ausgestaltung der Budgetpolitik seiner Mitgliedsstaaten. Dass es nicht mehr jene des vor drei Jahrzehnten verhandelten Vertrags von Maastricht sein können, unterstreichen mittlerweile auch konservative Ökonomen. Denn ein Regelwerk, das wirkungslos ist, würde auf Dauer seine Glaubwürdigkeit verlieren und das Vertrauen in die Gemeinschaftswährung schädigen. 

28. Oktober 2021

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