die furche - 323

Alles anders an den Börsen

Den innovativen Wachstumsunter-nehmen Europas fehlen leistungsfähige Börsen – wo bleibt die Kapitalmarkt-union?

Vor 250 Jahren, am 1. August 1771, unterzeichnete Kaiserin Maria Theresia das Gründungsdekret der Wiener Börse.  Nach ruhigem Beginn kam es in den Boom-Jahren der Gründerzeit zu einem eindrucksvollen Aufschwung. Dieser mündete allerdings wegen zuletzt überzogener Erwartungen ausgerechnet im Weltausstellungsjahr 1873 in einen Börsenkrach, der über zwei Jahrzehnte nachwirkte. Vom Zerfall der Donaumonarchie konnte sich der Finanzplatz Wien trotz einer turbulenten Aufschwungsphase in den Zwanzigerjahren unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht mehr erholen. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte es die Wiener Börse erst mit dem Rückenwind der Ostöffnung wieder zu Ansehen und regionaler Bedeutung.

Nahezu alles ist heute anders als in den Anfangszeiten des Handels mit Wertpapieren. Längst wurden die stattlichen Kathedralen des Kapitals abgelöst von elektronischen Handelssystemen in nüchternen Großraumbüros. Nur mehr in alten Filmen begegnen wir dem aufgeregten Händlertreiben am Börsenparkett. An den führenden Zentren des Aktienhandels dominieren mittlerweile algorithmische Systeme, mit denen ohne jedes menschliche Zutun Transaktionen in Nanosekunden abgeschlossen werden. Wie Pilze schießen digitale Handelsplattformen aus dem Boden, die es privaten Anlegern ermöglichen, nicht erst dann zu Aktionären zu werden, wenn sie bei Investmentbankern ein beachtliches Mindestvermögen nachweisen können.

Gerade in der jüngeren Altersgruppe hat sich die Zahl der Direkt-Anleger zuletzt selbst im traditionell börsen-aversen deutschsprachigen Raum nahezu verdoppelt. Die Nullzinspolitik der Notenbanken trägt das ihre dazu bei. Auch verlocken Meldungen über den raketenartigen Aufstieg gehypter Einzeltitel junger Unternehmen, sich spielerisch zu beteiligen. In Verbindung mit der Welt der trügerischen Krypto-Assets entsteht eine Nähe zum Glücksspiel („Gamification“) und dem, was einst John Maynard Keynes als „Casino-Kapitalismus“ bezeichnete.

Die über soziale Medien und eigene Plattformen organisierte Schwarmbildung von Anlegern, die mit vereinten Kräften mächtige Hedge-Fonds daran hindern wollen, vom Wertverfall von Unternehmen zu profitieren, ist nur eine weitere, allerdings sozial höchst spannende Spielart davon. Ausgerechnet „Game-Stop“ hieß jenes Unternehmen, das sie zu einem vorübergehenden Kurs-Höhenflug trieben, der die mächtigen Fonds um Milliarden brachte und einige Kleinaktionäre zufrieden machte. Viele von ihnen verloren allerdings bei diesem Spiel ihren ganzen Einsatz. Die geschickt an idealistische Instinkte appellierende Plattform „Robinhood“, über die das alles läuft, nützt gerade den kollektiv erzeugten Aufwind für ihren bevorstehenden Börsengang.

All diesen Exzessen zum Trotz bleibt es die Kernfunktion von Börsen, innovativen Unternehmen über leistungsfähige Kapitalmärkte zum notwendigen Risikokapital-Treibstoff zu verhelfen. Wenn Europa seine diesbezüglichen Chancen wahren will, sollte die geplante Kapitalmarktunion jedenfalls zügig umgesetzt werden.

05. August 2021

download