die furche - 311

Lehrlingsmangel und Akademisierungswahn

Unser Bildungssystem steht sich selbst im Weg, indem es den gemeinsamen Erwerb von Wissen und Können erschwert.

Dass Österreichs Unternehmen mitten in der größten Arbeitslosigkeit der Zweiten Republik händeringend nach Lehrlingen suchen, gehört zu jenen Meldungen, die man zweimal lesen muss, bevor man sie glauben will. Tatsächlich gibt es trotz Krise viel zu wenige Bewerbungen für nicht weniger als 17600 offene Stellen. Der paradoxe Grund: weil Aufstiegsklauseln mit Rücksichtnahme auf Pandemie-bedingte Erschwernisse derzeit auch bei negativen Abschlüssen einen Wechsel in die nächsthöhere Klasse ermöglichen, fehlt es an Schulabbrechern. Dass gerade sie das größte Reservoir für Neubewerbungen ausmachen, stimmt nachdenklich.

Die seit langem propagierte Aufwertung der Lehre funktioniert ganz offensichtlich nicht. Die Einstellung, dass Schüler mit guten Noten auf eine höhere Schule mit Blickrichtung Universität oder Fachhochschule gehen sollten und solche mit schlechten Noten in die Lehre, scheint sich in den letzten Jahren sogar noch verfestigt zu haben.

Wenn aber – unabhängig von Neigung und Eignung – die rein schulische Ausbildung sozial so viel mehr zählt, verschlechtert dies zugleich die durchschnittliche Einstiegsqualität jener, die sich doch für den direkten Einstieg in die Lehre entscheiden. Ihre Zahl geht wegen des geringen Sozialprestiges noch dazu deutlich stärker zurück, als es die veränderte Demographie der geburtenschwächeren Jahrgänge erwarten ließe. Auch das erklärt den überraschenden Ruf nach mehr Schulabbrechern. .

Auch am anderen Ende von Bildungskarrieren zeigen sich eklatante Fehlentwicklungen. Die überhastete Einführung der „Bologna“-Studienordnung hat eine faktische Verlängerung der Normalstudiendauer bewirkt, seit der Bachelor dem Master-Abschluss vorgeschaltet wurde. Zugleich sehen sich traditionelle Dienstleistungs- und Gewerbeberufe einem Akademisierungs-Diktat ausgesetzt. Auch von KrankenpflegerInnen werden bereits Graduierungen erwartet. Das Hochpushen der Akademikerquote scheint mehr zu gelten als die Förderung von Expertinnen und Experten, Facharbeiterinnen und Facharbeitern. Kein Wunder, dass der graue Markt jener Dienstleister stetig anwächst, die sich als „Berater“ für das Verfassen (halb)wissenschaftlicher Elaborate erbötig machen.

Weil es aber möglich sein muss, Wissen und Können zugleich auszubilden, sollte das Ziel wieder ernst genommen werden, einen Ausbildungsmix zu ermöglichen, der Umstiege zwischen den Bildungspfaden erleichtert, Lehre und Matura besser kombinierbar macht und den Weg zu vertiefenden Studien offenhält. Das funktioniert in Vorzeigeunternehmen mit hochwertigen innerbetrieblichen Ausbildungsprogrammen ganz ausgezeichnet, wird aber in der Fläche noch nicht ausreichend qualitativ abgesichert.

Menschenbildung, Erfahrungswissen, Belastbarkeit und Offenheit für neue Erkenntnisse: all diese Eigenschaften sind nicht über multiple-choice-Tests abfragbar. Deshalb darf es nicht von formellen Abschlüssen allein abhängen, ob man im Lauf eines Berufs- und Bildungslebens verantwortungsvolle Aufgaben anvertraut bekommt. 

18. Februar 2021

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