Die furche - 305

Alter Kontinent, du hast es besser

Diese US-Präsidentschafts-wahl sollte uns veranlassen, nüchterner auf die Politik der Vereinigten Staaten zu schauen, als wir das bisher getan haben.

Vor einem Jahr noch hatte ich vergeblich auf eine bevorstehende Amtsenthebung von Donald Trump gewettet. Nun haben – welch eine Erleichterung! – Amerikas WählerInnen dafür gesorgt, dass er seinem demokratischen Rivalen Joe Biden weichen muss.

Aber der Trumpismus hinterlässt Kratzspuren und demokratiepolitische Folgeschäden. Es wird deshalb länger dauern, bis wieder so etwas wie Normalität in die internationale Politik einkehrt. Andererseits mag es sogar sein Gutes haben, dass uns der narzisstische Autokrat dazu gezwungen hat, nüchterner auf die Politik der Vereinigten Staaten zu schauen, als wir das bisher getan haben.

Vor beinahe zweihundert Jahre hielt Johann Wolfgang von Goethe in einem berühmt gewordenen Gedicht fest: „Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte. … Dich stört nicht im Innern … unnützes Erinnern und vergeblicher Streit.“ Die hier bezeugte Bewunderung früher demokratischer, aufklärerischer, anti-feudaler Errungenschaften hat aus guten Gründen auch die Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, bis weit herauf in die jüngere Vergangenheit.

Doch sowohl die Finanzkrise als auch die von drastischen Fehlentscheidungen amerikanischer Politik mit verursachte Migrationskrise haben deutlich gemacht, dass Europa künftig mehr Mut zur kritischen Distanz braucht. Zentral dafür ist die selbstbewusste Einsicht, dass das europäische Modell einer sozialen Marktwirtschaft das Ziel verfolgt, für weitgehenden sozialen Ausgleich sowie allen zugängliche Bildungs- und Gesundheitssysteme zu sorgen. Es steht damit in starkem Kontrast zur US-amerikanischen, vor allem an Finanzinteressen orientierten Variante von Marktwirtschaft, die längst plutokratische Züge angenommen hat.

Schon deshalb sollten wir eben diese Soziale Marktwirtschaft selbstbewusst weiterentwickeln, statt uns weiter in finanzkapitalistischen Blaupausen und Abhängigkeiten zu verlieren. Der anspruchsvolle Handlungsbogen reicht von eigenständigen Finanz- und Digitalisierungsstrategien über grundlegende ökologische Innovationen bis zu verstärkten Anstrengungen in der Bildungs- und Forschungspolitik.  

Daran knüpft sich unmittelbar eine demokratiepolitische Folgerung: Europa darf seine quer über alle Mitgliedsstaaten gelebte demokratische Vielfalt mit all den unterschiedlichen Koalitionen nicht leichtfertig aufgeben. Ich meine damit – wiewohl überzeugter Europäer – dass wir eine weiter zentralisierte politische Union nach amerikanischem Muster gar nicht anstreben sollten. Und schon gar nicht die gesamteuropäische Direktwahl einer PräsidentInnen-Persönlichkeit. Die damit einhergehende Polarisierung sollten wir uns tunlichst ersparen.

Allerdings bedarf es, um in der globalen Großmächte-Konkurrenz zu bestehen, einer Verfassungsreform, die endlich auch Mehrheitsentscheidungen zu wesentlichen Themenfeldern ermöglicht. Erst dann besteht die Chance, dass der alte Kontinent es auch in Zukunft besser haben wird als das einst so bewunderte Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

12. November 2020

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