die furche - 300

Ein blinder Fleck der Notenbankpolitik

Notenbanken leben vom Vertrauen in Ihre Fähigkeit, Geld und Wert dauerhaft in Einklang zu halten.

Alljährlich im ausklingenden August ist Jackson Hole am Fuße der Rocky Mountains Schauplatz des weltweit bedeutendsten Treffens von Notenbankern, Ökonomen und Vertretern globaler Großbanken. Corona-bedingt traf man sich diesmal nur virtuell.

Jerome Powell, Präsident der US-Notenbank FED, verkündete einen eigentlich längst überfälligen Strategieschwenk in der Frage der Inflationsbekämpfung: weil sich der Zusammenhang zwischen Vollbeschäftigung und Inflation heute anders darstellt als früher, erzwinge sinkende Arbeitslosigkeit künftig keine Zinserhöhungen mehr, mit denen man traditionell eine Überhitzung der Konjunktur zu vermeiden suchte. Eher schon mache man sich Sorge um eine zu niedrige Inflationsrate. Demgemäß dürften die Zinsen in den USA – ähnlich wie in Europa – für absehbare Zeit auf ihren historisch niedrigen Niveaus verharren. Denkt man an die immensen Schäden, die durch frühere, allzu abrupte Zinserhöhungen seiner Vorgänger entstanden waren, ist das eine gute Nachricht.

Für die Europäische Zentralbank informierte Chefökonom Philip Lane über die neuen Instrumente des seit der Finanzkrise ständig erweiterten notfallmedizinischen Werkzeugkastens der EZB. Massive Anleihekäufe und alle erdenklichen Formen der Liquiditätssicherung für Banken sind da längst zur Routine geworden – und niemand fragt mehr nach, wie Geldpolitik jahrzehntelang ohne diese „unkonventionellen“ Maßnahmen funktioniert haben kann.

Die im Grunde erfreuliche, strategische Übereinstimmung der Hüter der beiden wichtigsten Weltwährungen könnte Anlass zur Beruhigung sein, würden nicht einige folgenschwere Nebenwirkungen der derzeitigen Notenbank-Praxis ausgeblendet:

Zum einen führen die Niedrigzinsen zu Ausweich-Investitionen in preislich längst überhitzte Immobilienmärkte, was leistbaren Wohnraum für Durchschnittsverdiener immer knapper macht. Zum anderen befeuern sie weit über jedes vernünftige Maß hinaus durch die Decke schießende Unternehmensbewertungen an den Weltbörsen, was die Verteilungsprobleme weiter zuspitzt.

Hinzu kommt als ein schon allzu lange übersehener, blinder Fleck der Notenbankpolitik der wachsende Interessensgegensatz zwischen „Wallstreet“ und „Mainstreet“, zwischen finanzkapitalistischer Maximierung und dem erdnäheren Interesse an realer Wertschöpfung.  Der dominante Einfluss global agierender Investmentbanken, Fondsgesellschaften und Großinvestoren auf das Handeln der Notenbanken wird immer mehr zu einem Problem für die Unternehmen der – auch Corona-bedingt – unter besonderem Druck stehenden „Realwirtschaft“.

Wenn daher Konjunktur, Wachstum und Arbeitsplätze nicht noch mehr, als dies bereits der Fall ist, zum Spielball von Spekulanten werden sollen, müssen die Notenbanker aufwachen und endlich die Entwicklung neuer, verstrengerter Finanzmarkt-Spielregeln aktiv vorantreiben. Andernfalls laufen sie nämlich Gefahr, ihr wichtigstes Kapital zu verlieren: das Vertrauen in ihre Fähigkeit, Geld und Wert dauerhaft in Einklang zu halten. 

03. September 2020

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